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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar
Autoren: Minette Walters
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26. Juli 2001
    In der Humbert Street richtete sich der Verdacht auf das Haus Nummer 23, nicht weil der Bewohner einen polnischen Namen hatte, sondern weil der neue Bewohner ein Mann war. Früher hatte Mary Fallon in dem Haus gewohnt; bis eines ihrer fünf Kinder, das auf einen Termin für einen Eingriff am Herzen wartete, an Lungenentzündung gestorben war. Der Gemeinderat hatte jegliche Verantwortung für den Tod des Kindes von sich gewiesen, die ganze Familie jedoch schleunigst in die der Gesundheit zuträglichere Wohnanlage von Portisfield verfrachtet, die, etwa fünfunddreißig Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Stadt, um einiges moderner und, dank den Erfahrungen, die man in der Acid Row gesammelt hatte, menschenfreundlicher war.
    Danach hatte das Haus monatelang leer gestanden, die Fenster mit Brettern vernagelt, bis eines Tages unerwartet ein Trupp städtischer Arbeiter erschien, um es durchzulüften und die warme Julisonne einzulassen und die Risse und feuchten Stellen an den Wänden zu übertünchen. Kurz danach zog der neue Mieter ein. Oder waren es mehrere Mieter? Niemand wusste genau zu sagen, wie viele Menschen in Nummer 23 lebten. Die Nachbarn aus Nummer 25 behaupteten, es wären zwei Männer – sie könnten die tiefen Stimmen durch die Wand hören –, aber es zeigte sich immer nur einer, ein Typ mittleren Alters mit rotblondem Haar, blasser Hautfarbe und einem schüchternen Lächeln, der offenbar die Besorgungen erledigte.
    Es wusste auch niemand genau zu sagen, wie und wann die Männer gekommen waren; niemand konnte sich erinnern, einen Möbelwagen gesehen zu haben. Gerüchtweise hieß es, die Polizei habe sie bei Nacht und Nebel mitsamt ihrer Habe im Haus einquartiert, aber die alte Mrs Carthew aus Nummer 9, die den ganzen Tag im Fenster hing, erklärte, sie seien an einem Montagmorgen mit einem Lieferwagen gekommen und hätten dem Fahrer eigenhändig beim Ausladen geholfen. Keiner glaubte ihr. Sie hatte mehr schlechte als gute Tage, und man bezweifelte, dass sie klar genug im Kopf war, um sich des Ereignisses zu erinnern, geschweige denn sagen zu können, dass es ein Montag gewesen war.
    Das Gerücht, dass die Polizei die Hand im Spiel gehabt hätte, fand mehr Anklang, weil es einleuchtend erschien. Vor allem in den Augen der jungen Leute, die in Verschwörungstheorien schwelgten. Warum waren die Männer im Schutz der Dunkelheit hergebracht worden? Warum zeigte sich der eine niemals bei Tageslicht? Warum war der andere, der die Einkäufe erledigte, so geisterbleich. Da steckte garantiert eine Verseuchung dahinter. So etwas wie aus
Akte X
. Vampirperverse, die in Rudeln Jagd machten.
    Mrs Carthew behauptete, die beiden Männer wären Vater und Sohn. Sie habe extra ihr Fenster aufgemacht, um sie zu fragen, sagte sie. Auch das glaubte ihr keiner. In der ganzen Acid Row gab es nicht ein einziges Fenster, das so eine senile alte Schachtel hätte öffnen können. Man brauchte Hammer und Meißel, um die Dinger aufzustemmen, weil sie dermaßen verzogen waren. Und selbst wenn sie es fertig gebracht hätte – ihr Haus war viel zu weit entfernt von Nummer 23 für ein Schwätzchen unter Nachbarn.
    Die Mehrheit meinte, sie wären schwul – doppelt krank also –, und Mütter mit Töchtern atmeten erleichtert auf und mahnten ihre Söhne, vorsichtig zu sein. Ein paar Tage lang lungerten junge Burschen vor dem Haus herum, grölten Beschimpfungen und zeigten ihre nackten Hintern, aber als nichts geschah und niemand ans Fenster kam, wurde ihnen der Spaß langweilig und sie kehrten in die Spielhallen zurück.
    Der Argwohn der Frauen war nicht so leicht zu beschwichtigen. Sie stellten weiterhin ihre Mutmaßungen an und beobachteten mit wachsamem Auge das Kommen und Gehen in der Humbert Street. Einige Sozialarbeiterinnen gaben ihnen Antwort auf ihre Fragen, aber kaum eine von ihnen schenkte den Aussagen Glauben, die durchweg allgemein und unbestimmt gehalten waren.
    »Man wird Ihnen doch nicht einfach zwei Perverse vor die Nase setzen, nur weil Sie in einer Sozialsiedlung leben. Sie können sich darauf verlassen, wenn es hier in der Gegend einen gefährlichen Kinderschänder gäbe, wüsste ich das als Erste...«
    »Vielleicht ist es ein gemeiner Trick, um Sie dazu zu bringen, besser auf Ihre Kinder aufzupassen...«
    »Glauben Sie mir, heutzutage stehen vorbestrafte Pädophile unter ständiger Beobachtung. Gefährlich sind die heimlichen Psychos, von denen keiner was ahnt...«
    Diese Antworten machten bis
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