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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar
Autoren: Minette Walters
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Männer des Kindesmissbrauchs zu beschuldigen.
    Aber Sophie hatte natürlich keine Ahnung, dass man soeben im Nachbarhaus des Hauses, in dem Melanie Patterson mit der vierjährigen Rosie und dem zweijährigen Ben lebte, einen Pädophilen einquartiert hatte.
    Als ein Auffangbecken für Asoziale galt bei vielen die Sozialsiedlung Bassindale, heute nur noch ein heruntergekommenes Denkmal für die Bemühungen der Fünfziger- und Sechzigerjahre, als man endlich soziale Gerechtigkeit schaffen wollte und deshalb überall Breschen in die Grüngürtel der Städte schlug und staatlich subventionierten Wohnraum für die Einkommensschwachen bereit stellte. In diesem Fall waren gut acht Hektar Laubwald, die an die Bassindale Farm angrenzten, der Axt zum Opfer gefallen und durch eine Betonburg ersetzt worden.
    Die Planung hatte eine Art ländliches Idyll vorgesehen. Höhere Wohnqualität für die Stiefkinder der Gesellschaft. Solide Eigenheime mitten in freier Natur. Frische Luft und Bewegungsraum.
    Aber alle Straßen der in einem Halbrund angelegten Siedlung, die zum Feldrain hin verliefen, waren Sackstraßen und stießen an eine undurchlässige Grenze – Anwesen mit Gartenmauern aus Beton –, die Früchte und Herden auf den umliegenden Feldern vor gedankenlosen Siedlungsbewohnern und ihren Hunden schützen sollte. Die beiden einzigen Durchgangsstraßen, die Bassindale Row und die Forest Road, zogen sich in zwei U-Bögen, die sich zu ihren Öffnungen hin erweiterten und zusammen ein auf dem Kopf stehendes W bildeten, durch die Siedlung und boten an vier Punkten Durchlass durch den Betongürtel, der die Wohnanlage von der stark befahrenen Hauptstraße abschirmte. Aus der Luft betrachtet, sahen die beiden Durchfahrtsstraßen aus wie die Kettenfäden eines Stücks Spinnweb, um die sich ein Netz aus Straßen und Sackgassen spann. Vom Boden aus gesehen, bildeten sie – wie die Polizei klar erkannte – mögliche Bollwerke, die Bassindale in eine Festung verwandeln konnten. Die ganze Siedlung war eine mit Beton ummantelte Druckbombe.
    Und kein Wunder.
    Der drängende Bedarf an Wohnraum infolge des Babybooms nach dem Krieg hatte die Errichtung schlampig geplanter und windig gebauter Häuser gefördert. Als unvermeidliche Folge davon fielen so hohe Kosten für Instandhaltung und Reparaturen an, dass man sich damit begnügen musste, nur die eklatantesten Mängel zu beheben. Krankheiten nisteten sich ein, besonders unter den Jungen und den Alten, deren Konstitution durch die Kälte und ewige Feuchtigkeit in den Häusern im Zusammenwirken mit ungesunder Ernährung geschwächt wurde. Depressionen waren so verbreitet wie die Abhängigkeit von rezeptpflichtigen Medikamenten.
    Die Siedlung, deren Bau mit den berüchtigten guten Vorsätzen in Angriff genommen worden war, war zu einem Getto für die Außenseiter der Gesellschaft verkommen. Sie war eine ständige Belastung für den öffentlichen Haushalt. Ein Quell wütender Erbitterung für den Steuerzahler und ständigen Ärgernisses für die Polizei, ein Quell der Verzweiflung für die Lehrer und die Mitarbeiter der Gesundheits- und Sozialdienste, die hier ihre Arbeit tun sollten. Für die Mehrheit der Bewohner war sie ein Gefängnis. Die gebrechlichen und ängstlichen Alten verbarrikadierten sich in ihren Wohnungen; von der Gesellschaft im Stich gelassene allein erziehende Mütter und vaterlose Kinder, die halbwegs in Frieden leben wollten, hausten hinter verschlossenen Türen. Nur aggressive Banden verwahrloster Jugendlicher, die die Straßen unsicher machten und sich als Dealer und Zuhälter betätigten, gediehen vorübergehend in dieser Wüste, ehe auch sie in ein Gefängnis wanderten.
    1954 hatte ein idealistischer Gemeinderat der Konservativen am Südende der Bassindale Row, der ersten Zufahrt zur Siedlung von der Hauptstraße aus, ein Schild mit den einladenden Worten
Willkommen in Bassindale
anbringen lassen. Im Lauf der Jahre wurde es regelmäßig durch Schmierereien verschandelt und ebenso regelmäßig vom Gemeinderat durch ein neues ersetzt. Doch 1990, im letzten Jahr der Thatcher-Regierung, strich der Gemeinderat, der unter beträchtlichem finanziellen Druck stand, die Mittel für die Erneuerung des Schilds, und von da an blieb es entstellt. Die Bewohner von Bassindale, für die der durch die Schmierereien entstandene neue Name eine zutreffende Beschreibung ihres Wohnorts war, taten nichts, um daran etwas zu ändern.
    Willkommen in Assi d Row
    Acid Row. Ein trostloses Pflaster,
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