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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar
Autoren: Minette Walters
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beschreiben und ließ sich bei der polizeilichen Vernehmung so weit verunsichern, dass sie erklärte, es könne auch eine Frau mit kurzem Haar gewesen sein.
    Als die zwanzig Minuten um waren, öffnete ein mageres, dunkelhaariges kleines Mädchen die Wagentür, rutschte auf den Mitfahrersitz und neigte sich zum Fahrer hinüber, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Das beobachtete niemand, aber die junge Mutter meinte, sie hätte ein kleines Mädchen, auf das die Beschreibung zutraf, wenige Minuten zuvor aus der Allenby Road um die Ecke kommen sehen. Doch auch in diesem Punkt wurde sie noch während der Vernehmung schwankend und sagte, das Kind könnte auch blond gewesen sein.
    »Alles in Ordnung?«, fragte der Fahrer.
    Das Kind nickte. »Hast du mir die neuen Sachen besorgt?«
    »Natürlich. Du weißt doch, dass ich meine Versprechen immer halte.«
    Ihre Augen blitzten erregt. »Schöne Sachen?«
    »Alles genauso, wie du es bestellt hast. Top von Dolce & Gabbana. Rock von Gucci. Und Schuhe von Prada.«
    »Ach, toll!«
    »Wollen wir fahren?«
    Plötzlich unschlüssig, sah das kleine Mädchen zu seinen Händen hinunter.
    »Du kannst es dir jederzeit anders überlegen, Schätzchen. Du weißt, ich möchte nur, dass du froh und glücklich bist.«
    Das kleine Mädchen nickte wieder. »Okay.«

4

Freitag, 27. Juli 2001 – Allenby Road 14,
Portisfield – 18 Uhr 10
    Auch abends um sechs noch stand die Sonne hoch am westlichen Himmel, und die Menschen, die in Scharen aus klimatisierten Geschäften und Büros in den stickigen Juliabend hinausströmten, waren ungeduldig und gereizt. Müde Arbeiter und Angestellte, die nach Hause wollten, schwitzten in überhitzten Autos und Bussen. Laura Biddulph verlangsamte den Schritt, als sie die Allenby Road hinunterging, um sich innerlich auf einen weiteren Schlagabtausch mit Gregs Kindern einzustellen. Sie hätte nicht sagen können, was deprimierender war, eine Achtstundenschicht in Sainsburys Supermarkt in Portisfield oder die Heimkehr zu Miss Piggy und Jabba the Hutt.
    Sie spielte mit dem Gedanken, ihnen die Wahrheit zu sagen.
Euer Vater ist widerlich... Ihr braucht überhaupt keine Angst zu haben, dass ich etwa eure Stiefmutter werden möchte...
Einen köstlichen Moment lang stellte sie sich vor, sie würde es wirklich tun, aber dann verlangte die Vernunft wieder ihr Recht, und sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie keine Alternativen hatte. Alle Beziehungen waren auf Lügen gebaut, aber Männer ohne Hoffnung glaubten die Lügen am ehesten. Was hatten sie auch für eine Wahl, wenn sie nicht einsam sein wollten?
    Draußen verlieh das Sonnenlicht den gleichförmigen Häusern der Sozialsiedlung einen falschen Glanz. Drinnen hockten Miss Piggy und Jabba bei zugezogenen Vorhängen im Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat, in dem mit voller Lautstärke irgendeine Schlagermusiksendung lief. Der durchdringende Gestank nach Bratfett stieg Laura in die Nase, als sie ins Haus trat, und sie fragte sich, wie viele Ausflüge in die Küche die beiden an diesem Tag gemacht hatten. Wäre es nach ihr gegangen, so hätte man sie bei Wasser und Brot eingesperrt, bis sie auf Normalmaß geschrumpft wären und Anstand gelernt hätten. Aber Greg, dessen Schuldgefühle seinen Kindern gegenüber grenzenlos waren, ließ ihnen alles durchgehen, und so wurden sie immer dicker und immer frecher.
    Sie zog ihr Baumwolljacke aus, vertauschte ihre flachen Verkäuferinnenschuhe mit halbhohen Pantoffeln, die unter der Garderobe standen, und setzte, um ihren Unmut zu verbergen, das nichts sagende, süßliche Lächeln auf, das die beiden von ihr kannten. Wenn sie Wohlwollen mimte, bestand vielleicht doch noch Hoffnung auf Veränderung.
    Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer, streckte den Kopf in den stickigen, von Fürzen geschwängerten Mief und rief laut, um das Plärren des Fernsehapparats zu übertönen: »Habt ihr euch schon was zum Abendessen gemacht oder soll
ich
euch was richten?« Es war eine dumme Frage – diverse fettige, mit Ketchup verschmierte Teller standen wie gewohnt auf dem Fußboden herum –, aber das war egal. Sie hätten ihr so oder so nicht geantwortet.
    Jabba the Hutt, ein Dreizehnjähriger mit rot blühendem Ekzem in den Falten seines bis zum Hals herabhängenden Schwabbelkinns, drehte prompt den Ton des Fernsehgeräts noch weiter auf. Miss Piggy, fünfzehn Jahre alt, mit Brüsten wie prall gefüllte Luftballons, kehrte ihr den Rücken. Es war jeden Abend das Gleiche, sie hatten es sich zum
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