Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Musentempel

Der Musentempel

Titel: Der Musentempel
Autoren: John Maddox Roberts
Vom Netzwerk:
hätte keine Lust, in einer Stadt zu leben, die ein veritables Kunstwerk ist. Ich glaube, daß dies der wahre Grund für den Ruf der Alexandriner ist, ein besonders zügelloses und wildes Leben zu führen. Wenn man gezwungen ist, in einer Umgebung zu leben, die von Platon persönlich entworfen sein könnte, muß man Erleichterung und ein Ventil für die menschlichen Triebe suchen, die die Philosophen stets verachtet haben. Amoralität und Ausschweifungen sind vielleicht nicht die einzige Lösung, aber sie sind bestimmt die attraktivste.
    Nach einer Weile bogen wir in nördlicher Richtung in eine breite Promenade ein. Vor uns lagen mehrere imposante Gebäude, einige umfaßt von zinnengekrönten Verteidigungsmauern. Wir setzten unseren Weg fort und passierten bald den ersten jener gigantischen Komplexe zu unserer Rechten.
    »Das Museion«, sagte Rufus. »Es gehört eigentlich zum Palast, liegt jedoch außerhalb der Festungsmauer.«
    Es war ein eindrucksvolles Gebäude mit einer breiten Treppe, die zum Tempel der Musen aufstieg, der dem gesamten Komplex seinen Namen gegeben hatte. Von weit größerer Bedeutung als der Tempel selbst waren jedoch die Gebäude, die ihn umgaben und in denen viele der größten Gelehrten der Welt auf Staatskosten ihre Studien trieben, ihre Werke veröffentlichten und Vorlesungen abhielten, wie es ihnen gefiel.
    Da es auf der ganzen Welt keine vergleichbare Einrichtung gab, hatte man sie nach dem Tempel benannt. Später hießen ähnliche Institutionen, die man nach ihrem Vorbild gegründet hatte, ebenfalls Museion.
    Noch berühmter als das Museion war die große zugehörige Bibliothek. Hier wurden alle wichtigen Bücher der Welt aufbewahrt, hier wurden Kopien erstellt und in die gesamte zivilisierte Welt verkauft. Hinter dem Museion konnte ich das gewaltige abgeschrägte Dach erkennen, das alle umgebenden Gebäude winzig erscheinen ließ. Ich machte eine Bemerkung über seine immensen Ausmaße, aber Rufus winkte ab, als ob es sich um eine Trivialität handele.
    »Das ist nur die kleinere Bibliothek. Sie heißt Mutterbibliothek, weil es sich um die ursprüngliche, von Ptolemaios Soter selbst gegründete Sammlung handelt. Die größere Tochterbibliothek ist an das Serapeion angeschlossen.
    Es heißt, der gemeinsame Bestand umfaßt mehr als siebenhunderttausend Bände.«
    Das klang unglaublich. Ich versuchte, mir auszumalen, wie siebenhunderttausend Bücher auf einem Haufen aussahen. Ich stellte mir eine ganze Legion vor plus einer zusätzlichen Hilfskohorte. Das wären dann etwa siebentausend Mann. Ich stellte mir weiter vor, wie diese Armee nach der Plünderung von Alexandria aus der Stadt marschierte und jeder Soldat hundert Bücher trug. Doch irgendwie wurde die Zahl dadurch nicht begreifbarer. Der Wein hat wahrscheinlich auch nicht geholfen.
    Als wir das Museion rechts hinter uns gelassen hatten, kamen wir durch ein weiteres Tor und befanden uns auf dem eigentlichen Palastgelände. Der Palast von Alexandria war ein weiterer Beleg des mittlerweile bekannten Drangs der Diadochen-Könige, alles größer zu bauen als irgend jemand zuvor. Die unbedeutenderen Gebäude waren von der Größe gewöhnlicher Paläste, die Gärten hatten die Ausdehnung von Stadtparks, die Heiligtümer waren so groß wie ganze Tempel.
    Es war eine richtig gehende Stadt in der Stadt.
    »Ganz ordentlich für Barbaren«, sagte ich.
    Wir wurden an der Treppe vor einer ausgedehnten Säulenhalle abgesetzt, die die gesamte Länge eines schier endlosen Gebäudes einnahm. Oben erschien eine Schar von höfischen Offiziellen, unter ihnen ein wohlbeleibter Mann mit freundlichem Gesicht, den ich von seinen Besuchen in Rom kannte: Ptolemaios, der Flötenspieler. Er begann im selben Moment die Stufen des Palastes hinab zu steigen, in dem Creticus aus seiner hochaufragenden Sänfte kletterte. Ptolemaios wußte, daß er keinesfalls oben auf dem Absatz warten durfte.
    Ein römischer Offizieller stieg bestenfalls Treppen, um einen höherrangigen römischen Offiziellen zu begrüßen.
    »Der alte Ptolemaios ist fetter denn je«, bemerkte ich.
    »Und ärmer denn je ist er auch«, sagte Rufus, als wir schwankenden Schritts auf das mit Mosaiken verzierte Pflaster hinabstiegen. Es war uns ein Quell ständigen Erstaunens, daß der König der reichsten Nation der Welt auch der weltberühmteste Bettler war, was uns indes keineswegs daran hinderte, aus diesem Tatbestand Nutzen zu ziehen.
    Die zurück liegenden Generationen der Ptolemäer hatten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher