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Der Metzger sieht rot

Der Metzger sieht rot

Titel: Der Metzger sieht rot
Autoren: Thomas Raab
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Männer, streckt ihren voluminösen Körper bis zu den Fingerspitzen in die Höhe und schickt einen ansteigenden Ton ins Oval, ähnlich der lebensrettenden Sirene für den Feueralarm an ihrer Dienststelle, Willibalds ehemaligem Gymnasium, und Willibald kann ein Lied davon singen. Nach diesem Brüller, der selbst den eingefleischtesten Dauerabonnementen vor Neid verstummen lässt, ertönt ein „Applaus für die Welle in Sektor C!“ aus den Lautsprechern. Bis zu den Ohren strahlt die Djurkovic, wie ein gerade fürs fulminante Vorsingen vor familiärer Versammlung gelobtes kleines Mäderl.
    Wie sehr doch die durch Massenhysterie reduzierte menschliche Vernunft zum leichtesten Opfer und zum dankbarsten Konsumenten jeglicher emotionalen Zuwendung wird, denkt sich der Metzger.
    Schulwartin Danjela Djurkovic wirft ihrem Willibald einen stolzen Blick zu, wohl in Erwartung eines wohlwollenden Nickens. Den Kopf bewegt er zwar schon, der Metzger, aber in die andere Richtung. Deutlicher kann ein verwundertes Kopfschütteln nicht ausfallen.
    Richtig erschrocken ist er, der Metzger. Nicht nur durch das dröhnende Hupkonzert aus den hinteren Reihen. Seine Danjela, der Inbegriff an Weiblichkeit, verehrt inmitten männlicher Fanatiker ein kugeliges Götzenbild. Dem Metzger wird jetzt richtig eng um seinen Hals, so als wäre der knallrote Fanschal, den ihm die Djurkovic beim Betreten des Stadions verpasst hat, mit einem Würgereflex beim Auftreten schlechter Gedanken und einer gewissen Mieselsüchtigkeit des Trägers ausgestattet. Man stelle sich vor, Schals wären grundsätzlich zu solchen Kunststücken fähig, beinah die ganze Stadt würde sich im Winter nach Luft ringend auf dem Boden winden.
    Willibald Adrian Metzger, schon allein wegen seines körperlichen Erscheinungsbildes als offenkundiger Sportverweigerer deklariert, sitzt verloren in seinem Jackett im Niemandsland, emotional leicht eingefroren, und trotz frühlingshafter Temperaturen ist er jetzt froh über den wärmenden Fanschal – obwohl, er weiß ja nicht einmal mehr, welche beiden Mannschaften hier verbissen versuchen, der anderen einen unbedeutenden Ball, übrigens längst nicht mehr aus Leder, tretend hinter einer Linie in einem weitmaschigen Netz kurzfristig zwischenzulagern.
    Fußball also. Gelingt nun diese im Grunde höchst banale Aufgabe, wird diesem Ereignis oft staatstragende Bedeutung beigemessen, von einer Hälfte des Publikums frenetisch gefeiert, während die andere Hälfte sich bereits gedanklich ganz der Begegnungsgestaltung mit der gerade jubelnden, gegenübersitzenden Zuschauermasse nach dem Schlusspfiff außerhalb des Stadions widmet.
    Tausende Augen starren hypnotisch auf den Ball, und im Metzger keimt die Frage auf: „Ist diese Kunststoffkugel ein letzter verbitterter überirdischer Versuch, die Menschen grenzüberschreitend zu verbinden, sozusagen der vergegenständlichte Messias?“
    Mit leuchtenden Augen, aufgeregt wie ein kleines Polarwölfchen in der sibirischen Tundra während der ersten Jagd, steht eine vergnügte Danjela immer noch vor ihrem Plastiksessel. Sie hat vor lauter Begeisterung vergessen, sich wieder hinzusetzen.

    Wahrscheinlich genau die gleiche Begeisterung wie anno dazumal, als im Mittelalter die Einwohner zweier benachbarter Gemeinden in der Region Derbyshire das alljährliche Ziel verfolgten, mit einem Ball und wahrscheinlich genauso roten Backen und leuchtenden Augen wie die der Danjela Djurkovic, den gegnerischen Mühlstein zu berühren.
    Die Entfernung zwischen diesen Mühlsteinen, die im Lauf der Jahrhunderte zu den heutigen Toren heranwuchsen, betrug etwa drei Meilen. Logisch, dass da keine Regeln definiert waren, das gilt übrigens auch für die Anzahl der Spieler. So schoben sich teilweise bis zu tausend Teilnehmer in der Gegend herum. Muss eine friedliche Angelegenheit gewesen sein. Und weil der Unfriede ja ein Phänomen ist, das aufgrund seines häufigen Auftretens den Menschen offensichtlich sehr viel Vergnügen bereiten muss, gibt es bis heute diese Form der „spielerischen“ Auseinandersetzung, meistens mit Ball, in den verschiedensten Variationen – genannt nach dieser Region, nämlich Derby. Wenn sich also zwei Parteien regional nahe liegen, und es durch diese Nähe wegen der menschlichen Liebe zum Unfrieden naheliegend ist, sich aus diversen Gründen in die Haare zu geraten, nennt man das Derby. Wenn einem der beste Freund die Frau ausspannt, ist das im entferntesten Sinn auch ein Derby, oder wenn zwei
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