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Der Metzger sieht rot

Der Metzger sieht rot

Titel: Der Metzger sieht rot
Autoren: Thomas Raab
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der Empfindungsebene des Willibald liegen, zieht sich eine geschlossene Linie und plötzlich ergibt alles einen Sinn. Nur nicht der Name, denn der Name ist völlig irrelevant, beliebig austauschbar.
    Anlehnen reicht nicht mehr, der Metzger greift mit beiden Armen zur Liftwand, so als müsse er sich übergeben, und hört in seinem Rücken:
    „Geht es Ihnen nicht gut?“
    „Geht schon!“, meint der Metzger, ohne sich umzudrehen.
    Obwohl es nicht geht, es nicht sein kann, es der Verstand nicht erträgt. Der Verstand, der überrumpelt von einer viel größeren Kraft an die Grenze des Begreifbaren stößt.

    Es gibt Momente, da überholt einen der sechste Sinn, obwohl der ja noch gar nicht erforscht ist und es ihn folglich eigentlich nicht geben darf. So wie das Monster von Loch Ness, den Yeti und den immer noch lebendigen Elvis. In diesen Momenten breitet sich plötzlich eine intuitive Gewissheit aus, ein Bauchgefühl, dem es wie dem sechsten Sinn an jeglichen handfesten Argumenten mangelt. Und weil diese Gewissheit ebenso wenig Gehirn hat, wie der sechste Sinn ein Sinn ist, verbindet die beiden eine Gemeinsamkeit, nämlich ihre fehlende Grundlage, und sie verschmelzen zu einem „Ganzen“. Einem ganz schön gewaltigen „Ganzen“, das kann nämlich erfüllender sein als die Implantation eines Weltalmanachchips ins Großhirn. Fällt einem so ein „Ganzes“ von wohliger Natur in den Schoß, wird man aus dem Umfeld gelegentlich mit den Beinamen Verliebter, Träumer, Künstler ausgestattet. Ist so ein „Ganzes“ allerdings von der eher unangenehmen Sorte und gar mit rück- oder vorausblickenden Fähigkeiten gepaart, hat man mit den Bezeichnungen Spinner, Scharlatan, Vollkoffer zu rechnen.
    Am ehesten würde der Metzger vom Pospischill aus dieser Aufzählung das Wort „Vollkoffer“ zugeteilt bekommen, käme er in dessen Gegenwart auf die Idee, sein höchst ungemütliches „Ganzes“ auszuformulieren:
    Soll er dem Eduard Pospischill von einem Originalbild im Büro des neuen Saurias-Präsidenten erzählen, das kürzlich jene Dame in ihrem Zimmer hängen hatte, die dann im Kurpark erschossen wurde, während sie eigentlich ihn, den Willibald, hätte treffen sollen, und die übrigens jenes Parfüm trug, welches dem Metzger einige Male so fragwürdig in die Nase gestiegen ist? Und soll er in weiterer Folge dem Kommissar von seiner Gewissheit erzählen, dass alles zusammenhängt und nur deshalb passiert ist, um Johann König vom Thron zu stoßen, veranlasst von seinem Nachfolger? Die Morde, von denen zwei als Selbstmorde gedeutet wurden, das Ultras-Chaos samt deren Zerstreuung und sogar die so handfesten Beweise.
    Einfach lächerlich, würde der Pospischill sagen und damit auch recht haben, weil doch all dem die Bodenhaftung, also die Grundlage fehlt.
    Obwohl sich da gerade beim erschütterten Metzger auf seiner Fahrt zurück ins Erdgeschoß, wahrscheinlich hervorgerufen durch seine Johann-König-Verdrängungstheorie, ein vergessener Punkt in den Kreis seiner Gedanken einfügt, der bei früherer Bewusstwerdung durchaus von Nutzen hätte sein können. Nur, wer kann schon selbst bestimmen, wann die Erinnerung zur Reife des Rückblicks aus anderer Perspektive bereit ist. Reife braucht Zeit und Abstand.
    Den Willibald prügelt nun das eigene Hirn. Er hat auf eine Tote vergessen.
    Und zur aufkeimenden Erinnerung an den Moment des Sterbens der Frau König mischt sich die vergessene Wahrnehmung dieser vorbeihuschenden Nachtschwester samt seiner kurzen Witterung des auf dem Gang zurückgelassenen Duftes.
    Sie war also auch dort, wird dem Metzger schlagartig klar, hat mich wahrscheinlich im Warteraum gesehen. So wie vielleicht auch im Stadion!
    Jetzt bekommt für den Willibald auch die Werkstattdrohung als offensichtliche Reaktion einer sich irrtümlich verfolgt fühlenden Person einen Sinn. Genauso wie der geplante Termin nach dem neuerlichen, erstmals persönlichen Zusammentreffen in der Villa Orchidee, im Kurpark, der wohl einen anderen Ausgang genommen hätte, wäre ihr da nicht diese Kugel dazwischengekommen. Wer zu viel weiß, kann sich verabschieden.
    Ist womöglich Heinz Hörmann mein Retter, durchzuckt den Willibald ein grauenhafter Verdacht, gefolgt von einem furchtbaren Gedanken.
    Wenn Heinz Hörmann im Kurpark die Waffe abgefeuert hat, um seine Gehilfin und Mitwissende zu beseitigen, was bitte passiert dann mit mir?
    Ein nie gekannter Schrecken fährt dem Metzger in die Eingeweide, kalter Schweiß tritt auf die Stirn
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