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Der Meister des Drakung-Fu

Titel: Der Meister des Drakung-Fu
Autoren: Franziska Gehm
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noch schlimmer: ein alter Esel! Voller Wut riss er den Kopf zurück und mit einem kräftigen, schnellen Ruck sofort wieder vor. Damit hatte' der junge Krieger nicht gerechnet. Er konnte sich zwar gerade noch am Geweih festhalten, wurde aber durch den plötzlichen Ruck nach vorne geschleudert. Er machte einen Kopfüberschlag, dann hing er am Geweih, dem Hirsch direkt vor der Nase.
    Die blasse Nase des Kriegers und die schwarzgraue Schnauze des Maralhirsches berührten sich fast. Die goldenen Augen des Angreifers blitzten vor Kampfeslust, Übermut und Unerschrockenheit. Er fletschte die Eckzähne und fauchte. Dann verzog er das Gesicht zu einem unverschämten Grinsen.
    Der Maralhirsch schnaubte wütend. Doch bevor er austreten, mit dem Geweih um sich stoßen oder nach dem dreisten Angreifer schnappen konnte, begann dieser, sich vor seinen Augen zu drehen. Der Krieger flog im Bogen um die Nase des Hirsches herum. Er hielt sich dabei mit einer Hand am Geweih fest, den anderen Arm hatte er ausgestreckt und drehte sich wie ein Propeller. Immer schneller.
    Wusch, wusch, wusch, sauste der Krieger an der Hirschnase vorbei.
    Wuschwuschwuschwuschwuschwusch ...
    Dem Hirsch flackerten die Augen. Das Dunkelblau des Mantels, das Elfenbeinfarben der Haut und das Gold der Augen vermischten sich zu einer großen bunten, wabernden Kugel. Die Kugel wurde immer größer und drehte sich immer schneller. Bis der Maralhirsch schließlich nicht mehr wusste, ob er sich drehte, die Kugel oder die ganze Welt. Und dann geschah etwas, was ihm noch nie zuvor in seinem Leben passiert war (noch nicht einmal zur Brunftzeit): Ihm wurden die Knie weich. Der Maralhirsch blinzelte, er röhrte, er ließ die Zunge aus dem Mund hängen. Die Kugel drehte sich immer weiter. Immer schneller. Immer bunter. Dem Hirsch wurde immer schwindliger.
    Wie in Zeitlupe rutschten die Vorder- und die Hinterbeine des Hirsches auseinander, bis er mit dem Bauch den Steppenboden berührte und alle viere von sich streckte. Auch das passierte dem mongolischen Hirsch zum ersten Mal.
    Erst als der Hirsch mit heraushängender Zunge am Boden lag und sein Kopf samt Geweih und Turban zur Seite kippte, ließ der Krieger das Geweih los. Er flog drei Runden um den Maralhirsch herum. Dann legte er sich rücklings auf dessen Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und grinste zufrieden vor sich hin.
    Der Hirsch lag am Boden. Bis auf ein Schnaufen zeigte er keine Regung mehr. Er kam sich vor wie ein Türvorleger. Er hoffte inständig, dass ihn keine seiner Hirschkühe so sehen würde.
    Der Krieger mit den goldenen Augen drehte sich um. Er musterte das Gesicht des Maralhirsches von der Seite. Sein Mund mit den spitzen Eckzähnen war nur wenige Zentimeter vom Hals des Tieres entfernt. Der Krieger fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Er rümpfte die Nase. Er fauchte.
    Der Hirsch begann zu zittern. Das Gesicht des Kriegers kam immer näher. Mit den messerscharfen Eckzähnen, mit den gierigen Goldaugen. Der Maral wusste, dass' es im nächsten Moment um ihn geschehen sein würde. Dennoch konnte er sich nicht bewegen. Er war gelähmt vor Angst und Schwindel. Mal abgesehen davon, dass seine Beine so weich wie Steppengräser waren.
    Schon spürte der Hirsch einen kühlen Hauch an seinem Hals. Modriger Geruch stieg ihm in die Nase. Er schloss die Augen und machte sich auf das Ende gefasst. Jeden Moment würden sich die scharfen Hauer dieses heimtückischen Nachtwesens in seinen Hals bohren. Jeden Moment war es um ihn geschehen. Er versuchte, an etwas Schönes zu denken. An die Zeit, als er noch ein Kalb war und in der Steppe spielte. An den Tag, als er den alten Platzhirsch vertrieb. Und an seine Hirschkühe.
    Dann war es so weit. Die letzte Sekunde war gekommen. Der Maral spürte etwas Glattes, Kaltes an seinem Hals. Doch zu seiner Überraschung war es nicht spitz. Und es tat auch gar nicht weh.
    Der Hirsch öffnete ein Auge und schielte nach unten auf seinen Hals. Der Krieger hatte die Arme um seinen Hals geschlungen, die Augen geschlossen und rieb seine Wange an seinem Fell.
    »Noi, noi noi!«, kam eine Stimme aus einem Gebüsch. Sie klang so tief, voll und rund, als wäre sie über Jahrhunderte wie ein Stein im Flussbett abgeschliffen worden. »Kerul Tschagatai Jugur Selenga! Was meinst du da gerade zu tun, mein junger Krieger der Finsternis?« Ein alter Mann trat in einem hellgrauen Gewand aus dem Gebüsch. Er stützte sich auf einen langen, dünnen Knochen. Seinen langen grauen
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