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Der Medicus von Saragossa

Titel: Der Medicus von Saragossa
Autoren: Noah Gordon
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Jungen erkannte, und er bekreuzigte sich, ohne zu wissen, ob dieser Reflex dem ermordeten jüdischen Jungen oder ihm selbst galt oder von der Anwesenheit des Priesters herrührte.
    »Wir wollen die Umstände seines Todes erfahren.« Der Priester sah ihn an. »Alles. Soviel man herausfinden kann«, fügte er hinzu, und der noch immer verwirrte Bernardo nickte.
    Eines wußten sie beide bereits. »Das ist Meir, der Sohn von Helkias Toledano«, sagte Bernardo, und der Priester nickte. Der Vater des ermordeten Jungen war einer der besten Silberschmiede von ganz Kastilien.
    »Wenn ich mich recht erinnere, war der Junge kaum fünfzehn Jahre alt«, sagte Espina. »Kaum mehr als ein Kind jedenfalls, als der Tod ihn ereilte.« Wegen des Gestanks versuchte er, flach zu atmen, aber es half nichts. Unter der Decke, dem letzten Zugeständnis an die Schicklichkeit, trug die stämmige junge Leiche nur ein Hemd. »Wurde er so gefunden?«
    »Ja. Von Fray Angelo, der in der Morgenkühle nach der Frühmette Oliven pflückte.«
    »Darf ich ihn untersuchen, Padre Prior?« fragte Espina, und der Prior wedelte ungeduldig mit der Hand.
    Das unschuldige Gesicht des Jungen wies keine Verletzungen auf. Auf Brust und Armen waren Blutergüsse zu sehen, ferner eine Sprenkelung auf dem Oberschenkel, drei oberflächliche Stiche auf dem Rücken und ein Schnitt auf der linken Brustseite, über der dritten Rippe. Der Anus war aufgerissen, auf den Hinterbacken klebte Sperma. Und hellrote Blutstropfen auf der durchschnittenen Kehle.
    Bernardo kannte die Familie des Jungen, alles fromme und sture Juden, die jene haßten, welche wie er den Glauben ihrer Vorväter aus freien Stücken aufgegeben hatten.
    Nach der Untersuchung bat Padre Sebastian den Arzt in die Kapelle, wo sie auf dem harten Steinboden vor dem Altar auf die Knie sanken und ein Vaterunser beteten. Dann trat Padre Sebastian hinter den Altar und zog aus einer Truhe ein kleines Sandelholzkästchen. Er öffnete das Kästchen und nahm ein Rechteck aus stark parfümierter, scharlachroter Seide heraus. Als er das Tuch auffaltete, sah Bernardo Espina ein vertrocknetes und ausgebleichtes Fragment von kaum einer halben Spanne Länge.
    »Wißt Ihr, was das ist?«
    Der Priester schien den Gegenstand nur sehr widerwillig aus der Hand zu geben. Espina trat in den flackernden Schein der Votivkerzen und betrachtete ihn. »Das Stück eines menschlichen Knochens, Padre Prior.«
    »Ja, mein Sohn.«
    In diesem Moment befand sich Bernardo auf einer schmalen und schwankenden Brücke über dem Abgrund eines Wissens, das er in langen, geheimen Stunden am Seziertisch erworben hatte. Die Kirche betrachtete das Sezieren als Sünde, aber Espina war noch Jude gewesen, als er bei Samuel Provo in die Lehre ging, einem berühmten jüdischen Arzt, der seit Jahren heimlich sezierte.
    Jetzt sah er dem Prior direkt in die Augen. »Ein Teilstück des Femur, des größten Knochens im Körper. Dies hier stammt von knapp oberhalb des Knies.«
    Er untersuchte den uralten Knochen und vermerkte seine Masse, die Winkelbildung, die charakteristischen Erhebungen und Gruben. »Er stammt vom rechten Bein einer Frau.«
    »Und das alles erkennt Ihr nur durch bloßes Ansehen?«
    »Ja.«
    Das Kerzenlicht lag wie ein gelber Glanz auf den Augen des Priors. »Es ist das heiligste Bindeglied zu unserem Erlöser.«
    Eine Reliquie.
    Bernardo Espina betrachtete interessiert den Knochen. Er hatte nicht erwartet, einer heiligen Reliquie einmal so nahe zu kommen. »Ist es der Knochen eines Märtyrers?«
    »Es ist ein Knochen der Santa Ana«, sagte der Prior leise.
    Espina brauchte einen Augenblick, bis er begriffen hatte. Die heilige Anna, Mutter von La Virgen Maria? Das kann nicht sein, dachte er und war entsetzt, als er merkte, daß er den Gedanken laut ausgesprochen hatte.
    »O doch, mein Sohn. Bestätigt von jenen, die sich in Rom mit solchen Dingen beschäftigen, und uns gesandt von Seiner Eminenz Rodrigo Kardinal Lancol.«
    Espinas Hand, die den Gegenstand hielt, zitterte, wie man es bei jemandem, der seit Jahren als guter Chirurg arbeitete, nicht erwarten würde. Behutsam gab er dem Priester den Knochen zurück und sank dann wieder auf die Knie. Nachdem er sich schnell bekreuzigt hatte, stimmte er gemeinsam mit Padre Prior Sebastian ein neues Gebet an.
    Als sie etwas später wieder draußen in der heißen Sonne standen, bemerkte Espina, daß sich mehrere bewaffnete Männer auf dem Gelände der Abtei aufhielten.
    »Habt Ihr den Jungen gestern
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