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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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Schlaf.
    Geschlafen wird nicht, gar geträumt. Nur gelegen und gefroren und solche Angst vor dem Erwachen.
    Der unangenehmste Moment des Tages – wenn das Liegen zu schmerzen beginnt, weil Nervosität die Glieder zucken macht, und wieder nicht gestorben sein, über Nacht, keineFeuerwalze hat die Insel ergriffen, keine Springflut. Hell ist es und zu laut, als dass ich mich weiter tot stellen könnte.
    Es war eingetreten, was ich am meisten befürchtet hatte. Beine ab. Er war noch so jung. Ein Laster ins Haus. Krebs in der Lunge. Ein Flugzeugabsturz, die unendlich langen Minuten bis zum Aufprall.
    Es gibt kein Anrecht auf irgendetwas. Willkür, Biologie und Zufall bestimmen den Verlauf eines Lebens, ich habe mir umsonst schöne Momente verdorben durch den Gedanken an ihre Vergänglichkeit. Und bereits in den Zeiten meiner Angst vor der Angst ahnte ich, dass ich zu feige wäre, im entsprechenden Moment Hand an mich zu legen. Ich betrachte meine Hand. Nichts, vor dem man sich mit großem Respekt verneigen sollte.
    Ich hatte nie verstanden, was schwierig daran sein sollte, an nichts zu denken, konnte ich doch früher stundenlang der Leere in meinem Kopf lauschen, frei von jedem Bild, das da hätte auftauchen können. Jetzt wird mir klar, dass meine scheinbar angeborene Gabe zur Kontemplation nur freundliche, zufällige Leere gewesen war und ein ausuferndes Desinteresse, mich oder etwas außerhalb von mir zu erforschen.
    Ich weiß nicht, wie ich es vermeiden kann, zu denken, wie ich Bilder abwehren soll, außer mich zu bewegen, mit der Präzision eines technischen Geräts. Unmöglich ist es, im Liegen Gedanken zu vermeiden, wenn das Bett zu schwimmen beginnt, das Zimmer schwankt, das Haus bebt und sich die Welt vor dem Fenster rasend schnell entfernt.
    Mein Selbstmitleid könnte mir peinlich sein, aber wer soll denn Mitleid mit mir haben, hier am anderen Ende der Welt, wo mich noch nicht einmal eine Kioskfrau verstünde; selbstwenn sie es wollte, verstünde sie mich nicht, ich gehöre nicht zu ihrer Rasse, ich bin kein Kind, ich bin nicht niedlich, warum soll man so jemanden streicheln.
    Waschen, anziehen, die Sachen riechen noch nicht, ich hoffe, sie riechen nicht, Sonderaktionen wie das Reinigen meiner Kleidung haben keinen Platz in meinem organisierten Tagesablauf.
    Ich wünschte, ich hätte ein Tier. Ich könnte es verhungern lassen, es würde zu mir sprechen, kurz vor seinem Tod: »Warum hast du mich benutzt, nur um mich sterben zu sehen?« würde er fragen, der kleine Beagle, und traurig schauen, und ich würde erwidern: »Tut mir leid, es ist nichts Persönliches, ich wollte nur wissen, um was ich trauere.« Dann würde er noch einmal kurz schnaufen, und ich könnte ihm am Strand ein Grab bereiten.
    Ich habe keine Ahnung, was in der Welt gerade passiert. Vielleicht herrscht vor der Tür eine Choleraepidemie oder Europa wurde mit einem Atombombenteppich bedeckt, Rückzug ins Private nennt man das. Ich könnte beginnen, eine Heimatgeschichte zu schreiben oder einen Familienroman, aber da ist keine Familie, keine Heimat.
    Jeden Morgen um sechs stehe ich auf. Ich wasche mich ohne jede Aufmerksamkeit.
    Es gibt nichts, was mich an meiner Person interessiert. Ich bin sauber, mehr kann keiner erwarten.
    Ich gehe nicht mehr jede Stunde zur ankommenden Fähre, schaue nicht mehr in chinesische Gesichter, ein paar Weiße, bei jedem hellen Fleck geht das Herz schneller, pumpt das Blut in den Kopf, die Venen dick, sie könnten platzen, platzt doch endlich, sondern ich verlasse die Wohnung, die steileTreppe hinab, nehme das Meer nicht wahr, es ist da wie der Himmel, und laufe dem Strom der Angestellten entgegen, die auf die Fähre wollen, sie wollen wenigstens irgendetwas, auch wenn sie es sich in den seltensten Fällen selbst ausgesucht haben. Ich nehme niemanden wahr. Keiner sieht mich, keiner interessiert sich für mich, man weicht mir aus, und das ist das Höchstmaß an Kontakt, das ich mir vorstellen kann.

Damals.
Vor vier Jahren.
    Ich lag auf einer Matratze, von der Straße her erhellte das Licht einer Laterne den Raum, in dem sich benutzte Kleidung zu Haufen schichtete, Verstärker unbegreiflich hintereinander standen, als wollten sie in den Krieg ziehen, und zwar gegen mich, zusammen mit der Artillerie, den Aschenbechern, die überall im Raum lauerten, die ich nur riechen konnte.
    Neben mir ein Körper, den ich auf gar keinen Fall berühren mochte.
    Mich in Anwesenheit anderer zu entspannen war mir beinahe unmöglich.
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