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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß
Autoren: John O'Farrell
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sie mich jeden Tag besuchte. Unter ihrer Leitung wurde ich verkabelt, einer Computertomografie und audiovisuellen Reaktionstests unterzogen; doch in allen Fällen war meine Hirnaktivität anscheinend »völlig normal«. Leider hatte mein Gehirn keinen Knopf, mit dem man es einfach aus- und wieder einschalten konnte.
    Es dauerte eine Weile, bis ich spitzkriegte, dass Dr. Lewingtons Begeisterung über meine Resultate rein gar nichts mit der Frage zu tun hatte, ob ich Fortschritte machte oder wir des Rätsels Lösung näher kamen.
    »Ooooh, das ist aber interessant!«
    »Was? Was?«, fragte ich hoffnungsvoll.
    »Beide Hippocampi sind normal, ebenso das Volumen des entorhinalen Cortex und des Temporallappens.«
    »Und – erklärt das irgendetwas?«
    »Nicht im Geringsten. Das ist ja das Interessante daran! Weder der mittlere Temporallappen noch die Adhaesio interthalamica weist eine bilaterale Schädigung auf. Wie es scheint, sind Ihre extrapersonalen Erinnerungen unabhängig vom mittleren Temporallappen im Neocortex konsolidiert.«
    »Ist das gut oder schlecht?«
    »Nun ja, dem liegt weder eine schlüssige Logik noch ein erkennbares System zugrunde. Aber so sind Computertomografien nun mal – sie geben uns immer neue Rätsel auf!«, sagte sie und klatschte vor Freude in die Hände. »Das macht das Ganze so wahnsinnig aufregend!«
    Ich spürte, wie mein Körper wieder in sich zusammensackte.
    »Und was die Speicherung und Verarbeitung von Erinnerungen angeht – das ist eine der großen ungelösten Fragen der Neurologie. Ein unglaublich spannendes Forschungsgebiet!«
    »Hmm, prima …« Ich nickte ratlos. Es war, als würde man am offenen Herzen operiert und hört plötzlich jemanden sagen: »Wow – was ist denn das für ein riesiger Muskel, der da ganz von allein vor sich hin pumpert?«
    Es dauerte eine Weile, bis Dr. Lewington zu einem Schluss gelangte und sich an mein Bett setzte, um mir zu erklären, was ihrer Meinung nach geschehen war. Sie sprach so leise, dass Bernard auf der anderen Seite des Vorhangs das Radio ausschalten musste.
    »Ähnlichen Fällen in den USA und anderswo nach zu urteilen haben Sie anscheinend eine ›dissoziative‹ oder auch ›psychogene Fugue‹ erlebt; wörtlich übersetzt, eine ›Flucht‹ aus Ihrem bisherigen Leben, ausgelöst vermutlich durch extremen Stress oder ein unbewältigtes Trauma.«
    »Eine Fugue?«
    »Ja, wie sie jährlich auf der ganzen Welt nur etwa einer Handvoll Personen widerfährt, und keine zwei Fälle verlaufen identisch. Persönlicher Gegenstände wie Portemonnaie oder Handy haben Sie sich vermutlich vorsätzlich entledigt, als der Gedächtnisverlust eintrat; dass Sie sich nicht entsinnen können, sämtliche Hinweise auf Ihr früheres Leben ausgelöscht zu haben, ist ganz normal. Alles vergessen haben Sie keineswegs, sonst wären Sie wie ein Neugeborenes, und handelte es sich um ›retrograde Amnesie‹, würde der Patient zum Beispiel wissen, wer Prinzessin Diana war, nicht aber, dass sie ums Leben gekommen ist.«
    »Paris 1998«, sagte ich, nur um ein wenig anzugeben.
    »1997!«, drang Bernards Stimme durch den Vorhang.
    »Dass Sie auf diese extrapersonalen Erinnerungen zugreifen können, legt den Schluss nahe, dass Sie gute Aussichten haben, auch Ihre persönlichen Erinnerungen wiederzuerlangen und in Ihr altes Leben zurückzukehren.«
    »Aber wann genau?«
    »Am 31. August«, sagte Bernard. »Sie wurde gegen vier Uhr morgens für tot erklärt.«
    Dr. Lewington wollte mir keine falschen Hoffnungen machen und mochte demzufolge auch nicht dafür garantieren, dass ich je wieder ganz gesund werden würde. Und so ließ sie mich mit diesem furchterregenden Gedanken allein, und ich starrte auf den grünen Vorhang rings um mein Bett und fragte mich, ob es mir eines Tages gelingen würde, in mein altes Leben zurückzufinden.
    »Vielleicht bist du ein Serienkiller«, gab Bernard kühl zu bedenken.
    »Entschuldige, Bernard, redest du mit mir?«
    »Nun ja, sie hat gesagt, der Gedächtnisverlust ist unter Umständen darauf zurückzuführen, dass du deine Vergangenheit auslöschen wolltest. Vielleicht konntest du es einfach nicht mehr ertragen, diverse obdachlose Penner ermordet zu haben, deren zerstückelte Leichen du in einer Kühltruhe im Keller aufbewahrst.«
    »Eine reizende Vorstellung. Vielen Dank.«
    »Möglich wär’s. Oder vielleicht bist du ein Terrorist.«
    »Das wollen wir doch nicht hoffen.«
    »Oder ein Drogendealer. Auf der Flucht vor den chinesischen
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