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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß
Autoren: John O'Farrell
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dem Mann für seine aufrichtige Anteilnahme auf Knien hätte danken können.
    »Sie müssen ins Krankenhaus! Das King Edward’s ist eine Meile die Straße runter«, sagte er und zeigte in die entsprechende Richtung. »Ich würde Sie ja hinbringen, aber … dann wäre ich meinen Job los.«
    Sein Mitgefühl rührte mich fast zu Tränen. »Natürlich – ich brauche einen Arzt«, dachte ich. »Warum bin ich darauf nicht von selbst gekommen?«
    Überschwenglich bedankte ich mich bei meinem besten Freund auf der ganzen Welt. An einer Bushaltestelle fand ich einen Stadtplan und darauf auch das Krankenhaus: alles geradeaus und bei dem riesigen Kaugummiklumpen links ab. Jetzt hatte ich ein Ziel; in mir glomm ein erstes Fünkchen Hoffnung. Und so schlenderte ich die belebte Hauptstraße entlang wie ein staunender Zeitreisender oder Außerirdischer und versuchte, alles in mich aufzunehmen: Manches kam mir vage vertraut vor, anderes fand ich vollkommen bizarr. Mein Herz machte einen Satz, als ich an einem Laternenpfahl einen Zettel mit der Überschrift » Vermisst « entdeckte. Doch darunter prangte nur das fotokopierte Bild einer verfetteten Katze. Dann verwandelte sich der turmhohe Betonblock vor mir in das Krankenhaus, und wie von selbst beschleunigten sich meine Schritte, als wäre ich schon so gut wie geheilt.
    »Verzeihung – ich brauche dringend einen Arzt«, sprudelte es in der Notaufnahme aus mir heraus. »Ich glaube, ich hatte eine Art Hirnfrost oder so. Ich habe vergessen, wer ich bin, und weiß auch sonst nichts über mich. Als wäre mein komplettes Gedächtnis gelöscht.«
    »Gut. Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen?«
    Im ersten Moment wollte ich die Frage tatsächlich beantworten, ebenso automatisch, wie sie gestellt worden war.
    »Aber genau das ist doch das Problem – ich weiß nicht mehr, wie ich heiße! Als wären sämtliche Informationen über meine Person mit einem Schlag …«
    »Verstehe. Dann nennen Sie mir doch bitte Ihre Anschrift.«
    »Ähm … tut mir leid … ich habe mich offenbar nicht klar genug ausgedrückt. Ich leide an vollständigem Gedächtnisverlust – ich weiß rein gar nichts über mich.«
    Der Krankenschwester gelang es mühelos, zugleich beleidigt und gelangweilt dreinzuschauen.
    »Gut. Wer ist Ihr Hausarzt?«
    »Herrgott noch mal, ich weiß es nicht . Ich saß in der U-Bahn. Da wurde mir plötzlich klar, dass ich weder wusste, weshalb ich in der U-Bahn saß, noch wohin ich wollte. Und jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich wohne, wo ich arbeite oder wie ich heiße, geschweige denn ob mir so etwas schon einmal passiert ist.«
    Sie hob den Blick und sah mich an, als wäre ich ein Querulant und Störenfried. »Krankenversicherungsnummer?« Ihr genervter Tonfall verriet, dass alle Liebesmüh vergebens war. Das Telefon klingelte, und sie ließ mich stehen und widmete sich einem pflegeleichteren Patienten. Ich starrte auf ein Poster, das mich daran erinnerte, meine Hoden untersuchen zu lassen. Dies war wohl kaum der rechte Zeitpunkt.
    »Es tut mir leid, aber ohne diese Angaben dürfen wir Sie nicht aufnehmen«, wandte sie sich wieder an mich. »Nehmen Sie regelmäßig verschreibungspflichtige Medikamente?«
    »Ich weiß es nicht!«
    »Haben Sie irgendwelche Allergien, oder leben Sie nach einer bestimmten Diät?«
    »Keine Ahnung.«
    »Und würden Sie mir bitte den Namen Ihrer Frau und Ihrer Familienangehörigen nennen und mir sagen, wie wir sie gegebenenfalls erreichen können?«
    Da bemerkte ich ihn zum ersten Mal. Den schemenhaften weißen Schatten an meinem vierten Finger, an dem ein Ehering gesteckt hatte. Sämtliche Fingernägel waren abgekaut und an den Rändern rot und wund.
    »Natürlich, Familie! Ich bin bestimmt verheiratet!«, stieß ich aufgeregt hervor. Vielleicht hatte man mir den Ring gestohlen, zusammen mit Portemonnaie und Handy. Ja, genau so musste es gewesen sein! Ich war ausgeraubt worden, hatte eine Gehirnerschütterung erlitten, und nun suchte meine liebe Frau verzweifelt nach mir. Der Schatten des Eherings erfüllte mich mit Hoffnung. »Vielleicht telefoniert meine Frau ja schon sämtliche Krankenhäuser durch, um mich zu finden«, sagte ich.
    Eine Woche später lag ich immer noch im Krankenhaus und wartete auf ihren Anruf.

2. KAPITEL
    Meine Fingernägel waren nachgewachsen, und ich kaute sie auch nicht mehr blutig. Ich trug ein Armband mit der Aufschrift »Unbekannte Person männlichen Geschlechts« ums Handgelenk, auch wenn die Pfleger mir den Spitznamen
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