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Der letzte Vampir

Der letzte Vampir

Titel: Der letzte Vampir
Autoren: David Wellington
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bedeutete nicht, dass er hungrig zu Bett gehen wollte.
    Mit der Zeit gewöhnten sich meine Augen an die fast völlige Dunkelheit des Laderaums, und ich erkannte ein paar Einzelheiten. Ich befand mich in einem engen, kleinen Raum, der nach Diesel und Moder roch. Es war kalt, nicht so kalt wie im Fluss, aber dennoch eisig. Vermutlich konnte man als Toter auf die Zentralheizung verzichten. In den Ecken stand der übliche Bootskrempel herum – Rettungsringe, die an gewaltige orangefarbene Süßigkeiten erinnerten, zwei Aluminiumruder, zusammengefaltete Persenning und Segeltuch. Fünf Särge lehnten an der Schiffswand oder standen auf dem Boden. Sie waren relativ schlicht und aus dunklem Holz, hatten diese lang gezogene hexagonale Form, die schon »Sarg« verkündet, wenn man sie nur sieht, obwohl ich glaube, dass seit fünfzig Jahren niemand mehr einen solchen Sarg gebaut hat. Sie hatten Messinggriffe und waren alle geöffnet, sodass ich die dicke Satinpolsterung sehen konnte. Einer war leer. Es war der größte und er schien gerade die richtige Größe für Lares zu haben. Die anderen vier waren besetzt.
    Die Leichen waren bis zur Unkenntlichkeit verwest. Es handelte sich hauptsächlich um Knochen, zusammengehalten von ein paar Fleischfasern. Einige wiesen alte, braune Stellen auf, vermutlich Blutflecken. Eine Leiche hatte volles, langes weißes Haar, das wie ungekämmte Baumwolle aussah. Bei einer baumelte noch ein Augapfel aus dem Kopf, der allerdings geschrumpft und getrocknet war; er sah aus wie eine weiße Pflaume. Keiner der Schädel war menschlich. Die Kiefer bestanden aus dicken, kräftigen Knochen voller zerbrochener Zähne. Allein diese Zähne verrieten mir, dass es sich um Vampire handelte. Vielleicht handelte es sich perverserweise um Lares’ Familie. Vielleicht schlief ja eine ganze Blutlinie in diesem engen Raum unter Deck.
    Etwas an ihnen bereitete mir Unbehagen. Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, was es war: Die Knochen in diesen Särgen waren nicht tot. Sie bewegten sich. Nur ganz langsam, beinahe unmerklich; aber die Knochenhände streckten sich. Die Köpfe neigten sich mir entgegen. Sie wollten etwas. Und zwar verzweifelt, so verzweifelt, dass sie die ausgetrockneten Sehnen anspannten. So verfault und verfallen sie auch sein mochten, diese Leichen waren noch immer untot und sich ihrer Umgebung genau bewusst. Vampire waren angeblich unsterblich, solange man sie nicht tötete. Aber ewige Jugend gab es anscheinend doch nicht für sie. Vielleicht war das auch zu viel verlangt.
    Lares erregte wieder meine Aufmerksamkeit, als er sich in dem engen Laderaum bewegte. Er sah verändert aus. Ich zwang meine Augen, genau hinzuschauen, und sah, dass sein Lockenschopf eine Perücke gewesen war – die hatte er nun abgelegt, und sein Kopf war so weiß und rund wie der Mond. Auf jeder Seite stachen dreieckige Ohren in die Höhe. Es waren keine menschlichen Ohren. Endlich erfuhr ich, wie ein Vampir wirklich aussah. Kein schöner Anblick.
    Lares kniete neben einem der Särge nieder, stützte sich mit den Händen auf den hölzernen Rand. Er senkte den Kopf über den Leichnam, und sein Rücken fing an zu zucken. Aus einem seiner höhnisch blickenden Augen fixierte er mich die ganze Zeit über. Mit einem schrecklichen Würgen kotzte er einen Viertelliter Blut in den Sarg, direkt in das Gesicht der Leiche. Er stemmte die Hände in die Seiten und würgte immer wieder, bis der Schädel in klumpiges Blut getaucht war.
    Dampf stieg von dem heißen Blut auf. Dampf umgab den Schädel und den Brustkorb der Leiche. Dampf verfestigte sich wässrigem Licht gleich um die Knochen, hüllte die Überreste des Vampirs scheinbar in Fleisch und Haut. Während das Blut in den Mund der Leiche tropfte, nahm der Körper an Masse zu und fing an, so etwas wie menschliche Gestalt anzunehmen.
    Lares begab sich zum nächsten Sarg. Er fing an zu husten, seine Lippen waren blutbefleckt. Er hustete so lange, bis er sich wieder verkrampfte wie eine Vogelmutter, die ihre Jungen fütterte; Blut hing in dicken, schleimigen Fäden aus seinem Mund. Wo es die Leiche berührte, stieg Dampf empor, und eine zweite Transformation begann. Haut raschelte wie altes, verschimmeltes Pergament, als sie sich um den verfallenen Körper schmiegte. Dunkle Haut, von Narben überzogen. Der hier hatte eine Tätowierung auf dem Bizeps. Dort stand »SPQR« in gezackten, schlampig geführten Buchstaben.
    Der rötliche Schimmer, den ich auf Lares’ Wangen gesehen
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