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Der letzte Massai

Der letzte Massai

Titel: Der letzte Massai
Autoren: Frank Coates
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der Schwanz des Reptils erneut hob und erkennen ließ, dass ein weiterer Angriff bevorstand, wirbelte Parsaloi herum und griff hinauf zur Uferkante. Er bekam ein Grasbüschel zu fassen und zog sich unter Aufbringung all der Kräfte seines schmächtigen Körpers daran hoch, die steile Böschung hinauf, ehe das Krokodil einen letzten Versuch unternahm, sich seine magere Beute doch noch zu schnappen.
    Parsaloi hatte gerade seine Beine über die Kante in Sicherheit gebracht und schaute zurück, als der Kopf des Krokodils wieder im Wasser verschwand. Lediglich ein wilder Strudel zeugte von seinem wütenden Rückzug.
    Der Junge rollte sich auf den Rücken, atmete tief durch und blickte zum Himmel hinauf, dessen Blau ihm strahlender vorkam als jemals zuvor. Und so blieb er dort liegen, bis sich sein heftig pochendes Herz beruhigt hatte.
     
    Parsaloi verweilte länger als beabsichtigt am Flussufer. Erst als die höchsten Äste der Eukalyptusbäume lange Schatten über den Fluss warfen, erkannte er, dass er sich auf den Heimweg machen musste. Es würde in einer Stunde dunkel werden, aber er hatte es nicht eilig, in Sianois Hütte zurückzukehren. Die Prügel, vor denen er geflohen war, weil er irgendeine unbedeutende Aufgabe nicht zu Sianois Zufriedenheit erledigt hatte, warteten immer noch auf ihn. Er lächelte angesichts der Ironie. Es war ihm gelungen, zwei Züchtigungen an einem Tag zu entgehen, aber er wusste, dass es nichts weiter als Augenblickserfolge waren.
    In den letzten Monaten war der Kummer sein ständiger Begleiter gewesen. Es hatte damit begonnen, dass seine Mutter, von all der Arbeit und ihrer schlechten Gesundheit erschöpft, gestorben war und ihn als einzigen Laikipiak und als eine ständige Erinnerung – zumindest für die älteren Purko-Jungen – an die Bruderkriege, die viele Jahre zwischen ihren Gruppen getobt hatten, in seinem Dorf zurückgelassen hatte. Seine Mutter hatte sich durch ihre harte Arbeit die Bewunderung des Dorfes verdient, wenn auch nicht die ihres Ehemannes, der sie immer nur als sein Eigentum betrachtet hatte. Doch nach ihrem Tod waren all die Feindseligkeiten gegenüber den Laikipiak wieder erwacht, und nun rasteten die Nachteulen des Hasses auf Parsalois kleinem Kopf.
    Der Mann, den er nicht Vater nennen wollte, hatte niemals Mitgefühl für ihn gezeigt. Aber ohne den beruhigenden Einfluss seiner Mutter waren der Lederriemen, die Faust, die offene Hand eine ständige Erinnerung daran, dass Sianois Sympathien von ihrem Tod unberührt blieben.
    Parsaloi stapfte am Ufer entlang, versunken in seinen Schmerz. Doch plötzlich richteten sich seine Nackenhaare auf, seine Arme begannen zu kribbeln, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er blickte sich suchend um, glaubte schon, die Purko-Jungen seien zurückgekehrt, aber er konnte nichts Auffälliges entdecken. Sein Instinkt sagte ihm, dass es ein Geräusch gewesen war, das ihn auf eine Gefahr aufmerksam gemacht hatte, und nicht etwa irgendetwas, das seine Augen wahrgenommen hatten. Dann erklang es erneut – ganz kurz nur und schwach, aber klar genug, um ihn erkennen zu lassen, worum es sich handelte. Es war das Geräusch, das jeder Massai-Junge beinahe ebenso früh zu erkennen lernte wie die Stimme seiner Mutter: Irgendwo aus dem hohen Gras ertönte das leise, tiefe Knurren eines beunruhigten Löwen.
    Im ersten Moment wollte Parsaloi fliehen, doch angesichts der Graswand vor ihm und des krokodilverseuchten Flusses in seinem Rücken war ihm klar, dass jede Bewegung, die er machte, ohne zuvor herausgefunden zu haben, woher das Geräusch kam, seinen Tod bedeuten konnte. Er hielt den Atem an, bis ihm die Ohren schmerzten, und kurz bevor er einen schnellen, flachen Atemzug tat, hörte er es wieder.
    Es war ganz in der Nähe, irgendwo links vor ihm. Wie durch ein Wunder schien ihn der Löwe noch nicht bemerkt zu haben. Doch als Parsaloi mit geschmeidigen, leisen Bewegungen auf den nächsten Baum kletterte, entdeckte er den wahren Grund. Die Aufmerksamkeit des Löwen war auf einen anderen Baum gerichtet, eine kleine Akazie, um die er sich wiederholt im Kreis bewegte und gelegentlich versuchte, in ihre unteren Zweige zu springen. Ein Junge, der ein wenig älter war als Parsaloi, klammerte sich verzweifelt an den schmalen Stamm.
    Anfangs dachte Parsaloi, es handele sich um einen der Hirtenjungen, die ihn gejagt hatten, und er verspürte eine gewisse Euphorie angesichts dieser ausgleichenden Gerechtigkeit. Es würde ihm nicht schwerfallen, zu
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