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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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die die Party und die Nacht und die Stadt durchdrangen.
    Ich war mir nie sicher, wie weit mein sechster Sinn – mein Talent, wie Bailey es nannte – in die Welt hinausreichte, aber mit jedem Jahr, in dem ich mich im Gebrauch des Shilas übte, erschien es mir weiter. Ich horchte in mich, spürte mein Blut rauschen, das sich mit dem Puls der zwei Millionen Menschen in dem weiten Labyrinth der Fabriken, Paläste und Gassen vermischte, ihren Geheimnissen, ihren Gefahren. London mit seinen rußgeschwärzten Dächern und seinen dunklen, festungsgleichen Zinnen war ein Monster, ein unbekannter Urwald.
    Ich fühlte die alten Träume mit aller Macht über mich hereinbrechen. Die Nacht war voll fremder Geräusche, und das Bild Londons wurde überlagert von den Bienenstocktürmen einer Dschungelstadt, eines versunkenen Molochs, der im Begriff war, aufzuerstehen und sich von den gesichtslosen Massen der Menschen zu nähren, die seine Gassen durchströmten wie Ratten den Bauch eines Schiffs. Mir schauderte, und ich rieb meine Arme, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte.
    „Miss Niobe“, hörte ich Bailey an meiner Seite und drehte mich dankbar um. Wie immer hatte ich sein Näherkommen nicht gespürt.
    Roderick Bailey, 1st Baron Bailey war nicht größer als ich; dennoch schien er deutlich mehr Raum einzunehmen, und das trotz meiner ausladenden Stoffe. Es mochte an seiner Gestalt liegen, die er in den zurückliegenden Jahren mit gemischten Gefühlen immer mehr aus der Form hatte gehen sehen, teils auch an seinem Schirm, den er überall mit sich trug, und der wichtigtuerischen Art, mit der er damit überbordende Gesten beschrieb. Möglicherweise war es die reflexhafte Vorsicht vor einem so liebenswürdig wirkenden Mann, der gleichzeitig mit dem Auge eines Spitzbuben in die Welt hinausblickte, die andere Leute auf Abstand hielt. Vielleicht auch das Auge selbst, dieses eine Auge, das ihm geblieben war, und das Rätsel des anderen, das er unter einem dunklen Brillenglas verbarg. Er sprach nie darüber, wie er sein Auge verloren hatte, auch mit mir nicht.
    „Was tun wir hier?“, fragte ich ihn ziemlich direkt. Doch wie ich mir hätte denken können, legte er einen Finger an die geschürzten Lippen und sah sich geheimniskrämerisch um. „Liebe Freundin“, raunte er. „Sie platzen ja geradezu vor Ungeduld! Man könnte meinen, Sie führten etwas im Schilde. Kommen Sie.“ Er führte mich in Richtung des Buffets wieder hinein. „Stärken Sie sich. So eine Gelegenheit bekommen Sie so schnell nicht wieder! Diese Häppchen sind köstlich. Die Eierspeisen – ein Traum. Diese hier nennen sich Schottische Eier. Das große Ei da hinten stammt aus Australien. Ich weiß nicht, wie frisch es noch ist. Man versicherte mir ...“
    „Sie benehmen sich, als hätten wir seit Tagen nichts gegessen“, lachte ich und schob mir eines der Häppchen in den Mund. Es war wirklich nicht schlecht.
    „Sie werden etwas Stärkung brauchen, Teuerste. Greifen Sie zu“, drängte er. „Sie erinnern sich doch an Sir Malcolm?“
    „Sir Malcolm?“ Ich wurde hellhörig. Zwar kannte ich ihn aus seiner Junggesellenzeit, doch als Ehemann unserer Gastgeberin hatte Sir Malcolm die Kunst, als Einsieder zu leben, derart perfektioniert, dass man seine Existenz oft zu vergessen geneigt war. Er nahm nie an ihren Abendanlässen teil; allein die Vorstellung von Vergnügen bereitete ihm Entsetzen. „Es ist ein Weilchen her, seit ich ihn zuletzt gesehen habe“, sinnierte ich und durchstöberte das Buffet. „Es gibt Eiscreme“, stellte ich fest. „Oh, ich liebe Erdbeereis!“
    „Da sind Sie nicht die Einzige“, nickte Bailey und redete zielsicher an mir vorbei. „Manch einer glaubt, er sei untergetaucht.“
    „Sie sprechen von der Loge?“
    „Zu viele Gläubiger und alte Freunde, die sich mit ihm unterhalten wollen. Sie verstehen schon.“
    Ich schaufelte mir einen kleinen Berg Eiscreme auf den Teller. „Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, fürchte ich.“
    Bailey nahm sich einen frischen Teller und stellte sich hinter mir an. „Im Gegenteil, Sie sind mir weit voraus. Wären Sie so nett?“ Ich löffelte ihm etwas Creme auf den Teller. Er tippte mit dem Finger hinein, schleckte ihn ab und strahlte. „Sein Erscheinen heute Abend wird Sturzbäche der Freude bei seinen Freunden hervorrufen – wenn auch nicht bei seiner Frau.“
    Ich hob eine Braue. „Malcolm? Sir Malcolm wird uns beehren?“
    „Der verlorene Sohn kehrt zurück“, grinste er. „Wer
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