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Der Krieger und der Prinz

Der Krieger und der Prinz

Titel: Der Krieger und der Prinz
Autoren: Merciel Liane
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Wechseln und einen Umhang gegen die Kälte. Und das Wichtigste von allem, seine Waffen.
    Nicht schlecht. Er hatte schon mit weniger überlebt.
    Eine leise Stimme in seinem Hinterkopf fragte, ob das so ganz der Wahrheit entsprach. Sein Lehnsherr war tot, ein Dornenlord war wahrscheinlich verantwortlich für das Morden, und er befand sich ohne Freunde auf feindlichem Territorium. Nichts von alledem war Grund zum Jubeln.
    Brys schob seine Zweifel beiseite. Er hatte schon Schlimmeres mit weniger überlebt, und er würde auch das hier überleben. Aber er musste daran glauben, damit es wahr wurde.
    Er öffnete seinen Umhang und streifte Wistans Tragebeutel ab. Das Kind war nicht verletzt, soweit er erkennen konnte, und es war erheblich stiller geworden. Brys hatte neuerliches Weinen erwartet, aber Wistan gab nur die kleinen Laute von sich, die er in den Ställen gehört hatte, eine Mischung aus Schluckauf und Schluchzen.
    Gut. Eine weitere kleine Wohltat. Er befestigte den Beutel wieder und ging die Straße hinunter, wobei er seinen Wallach am Zügel führte.
    Lange Zeit später, als die Sonne im Westen rote Schatten über den Himmel warf, gestattete Brys sich – für eine kurze Zeit, bis die Abenddämmerung einbrach – den kleinen, bitteren Luxus von Schuldgefühlen. Und Trauer. Er hatte Freunde dort drüben gehabt, soweit er überhaupt jemals Freunde gehabt hatte, und er hatte keinen Finger für ihre Rettung gerührt. Er hätte keinen Finger rühren können , aber diese Wahrheit war nicht leicht zu schlucken, ganz gleich, wie oft er sie hinunterwürgen wollte.
    Die Nacht brach an. Brys ging weiter. Er hatte einen langen Weg vor sich.

2
    Es hatte nie einen schöneren Tag auf der Welt gegeben, befand Odosse, als sie nach Weidenfeld zurückkehrte. Der Herbstnachmittag war frisch, aber angenehm. Sonnenlicht fiel durch die Blätter von Esche und Ahorn und verwandelte den Wald in eine Kathedrale aus Gold und Dunkelrot; unter einer solchen Herrlichkeit fühlte sie sich großartig wie eine Königin. Und bald, so versprach sie sich selbst, bald würde sie auch so schön wie eine Königin sein.
    Sie schloss die Finger um die kleine Flasche, die die Amulettmacherin ihr an diesem Morgen verkauft hatte. Das dunkelblaue Glas fühlte sich warm an und barg das Versprechen auf eine Macht, die sie sich momentan nur vorstellen konnte. Schon die Zutaten, die die Amulettmacherin aufgelistet hatte, klangen wie Geheimnisse: Maulbeere und Moschus, Bernstein und Myrrhe. Die Tränen der Kaiser aus dem fernen Ardashir und ein Tropfen Rotwein, um das Blut in Wallung zu bringen.
    Und sie würde es in Wallung bringen, wenn sie erst einmal schön war.
    »Und dann werde ich einen reichen Mann heiraten«, sagte sie zu dem Säugling, der auf ihren Rücken geschnallt war, »und du wirst eine neue Wiege bekommen und dein eigenes Zimmer, und du wirst Buchstaben und Zahlen lernen, und eines Tages wirst auch du ein großer Mann sein.«
    Aubry stieß ein Gurgeln aus, und Odosse lachte und nahm das Gurren ihres Kindes als Bestätigung.
    Sie hatte gerade den letzten Wegstein erreicht, als sie hörte, wie etwas Großes krachend durch das Unterholz kam. Wachsam, aber noch ohne Angst, hielt Odosse ihren Wanderstock mit dem eisernen Griff bereit und trat in die Mitte der Straße, wo sie mehr Platz zum Ausholen hätte.
    Jedes Kind, das alt genug war, um zu gehen, kannte die Gefahren der Straße. Wölfe, Bären und große, rehbraune Wildkatzen streiften durch den bayarnischen Wald, und manchmal trieb sie der Hunger dazu anzugreifen. Banditen machten die einsameren Wegstrecken der Straße der Flusskönige unsicher und lauerten Reisenden auf, die sich zu weit vom Schutz entfernten, den die Reiter der Wanderer boten.
    Und natürlich bestand so nah am Fluss immer das Risiko, dass es Plünderer waren. Die rivalisierenden Königreiche Langmyr und Eichenharn starrten einander über den Fluss, den Seivern, hinweg grimmig an. Beide Seiten zeigten keine große Liebe füreinander; so war es seit vierhundert Jahren, seit Uvarrics Torheit. Beide Länder sahen sich als legitime Nachfolger des ehemals prächtigen Rhaelyand, beide verrichteten ihre Gebete unter den von Säulen gestützten Kuppeln der Strahlenden, und doch hassten Langmyr und Eichenharn einander mit der Wildheit entfremdeter Brüder. Man wusste nie genau, wann eine Gruppe von einer Seite den Fluss überquerte und auf der anderen Seite blutige Gräuel verübte. So war es schon gewesen, als Odosses Großmutter noch
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