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Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Titel: Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Autoren: Kester Schlenz , Joja Wendt
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Mutter lacht und sagt: «Das wird schon. Hab Geduld mit der Frau. Sie hatte es nicht immer leicht.» Also hat Nelly Geduld mit Frau Billerbeck. Und macht alles, was sie verlangt. Sie übt und übt. Aber mit der Zeit merkt Nelly, wie sie immer unglücklicher wird. Sie will ausbrechen, mal etwas anders machen. Doch jeder Versuch, die strengen Vorgaben ihrer Lehrerin zu umgehen, wird entrüstet zurückgewiesen. «Wir lernen so oder gar nicht, Kind», faucht sie. «Ich weiß, was gut für dich ist. So, und nun sitz gerade und mach weiter. Und übrigens sind deine Fingernägel wieder ein Stück zu lang. Du weißt, wie ich das hasse.»
    Nelly fügt sich, aber sie merkt, wie ihre einst so farbenfrohe Welt der Musik allmählich zu verblassen beginnt und immer trüber und düsterer wird. Der Gang zum Klavier fällt ihr zunehmend schwerer, und sie muss sich regelrecht zwingen, die Vorgaben der Lehrerin zu erfüllen. Das warme Netz der Klänge verwandelt sich für Nelly mehr und mehr in ein Gefängnis. Nelly wird immer trauriger, zieht sich zurück, bleibt oft tagelang allein auf ihrem Zimmer. Ihre Freundinnen haben es wegen der vielen Abfuhren, die sie bekommen haben, schon längst aufgegeben, sich mit ihr zu verabreden. Abends liegt Nelly oft lange wach. Von ihrem Bett aus kann sie durchs Fenster die Sterne sehen. In einer klaren Nacht ist sogar das hellste Sternbild des nördlichen Nachthimmels, die Lyra, auszumachen. Dieses Sternbild bedeutet Nelly sehr viel. Ihr Großvater hat einmal gesagt, in dieser Sternenformation läge auf eine geheimnisvolle Art und Weise der Anfang aller Geschichten verborgen. Wie er das wohl gemeint haben könnte? Er hat ihr damals erklärt, es sei ein Abbild des ältesten Saiteninstrumentes, des Urahns des Klaviers, und es rankten sich viele geheimnisvolle Sagen um dieses Sternbild. Hin und wieder holte Großvater uralte, verstaubte Bücher aus dem Schrank, mit Zeichnungen, auf denen man Engel mit der Lyra auf Wolken sitzen sehen kann. Die Lyra, erklärte er, stünde bei den alten Philosophen als Sinnbild für die Kunst und die Musik. Nelly sucht oft den Nachthimmel nach diesem Sternbild ab. Manchmal einfach nur, um ihrem Großvater und seinen spannenden Geschichten etwas näher zu sein – denn sie erinnert sich gern an die Stunden, in denen ihr Großvater ihr Lieder aus aller Welt auf dem Klavier vorgespielt hat. So hat sie schon als ganz kleines Kind phantastische Reisen erlebt, deren Bilder sie heute noch vor Augen hat. Ach, ihr Großvater kann so toll erzählen. Jedes Mal, wenn er bei ihnen zu Besuch ist, setzt er sich in den alten, kunstvoll geschnitzten Lehnstuhl im Wohnzimmer. Großvater hat ihn eines Tages von einer seiner weiten Reisen mitgebracht, und seitdem hat der Stuhl seinen festen Platz zwischen Kamin und Bücherregal. «Wie hast du den Stuhl bekommen?», fragte Nelly ihn einmal. Ihr Großvater nahm seine Pfeife aus dem Mund und sagte: «Also, das war so. In der Südsee, es war nach einem formidablen Sturm, habe ich einmal eine prachtvolle Muschelkette als Gastgeschenk vom König von Tonga bekommen, weil ich ihm einen Splitter aus dem Hintern entfernt hatte. Diese Kette – sie war nämlich ziemlich hässlich – habe ich dann bei einem südamerikanischen Händler gegen eine Handvoll alter Inka-Münzen eingetauscht. Und diese Münzen – sie waren alles andere als hübsch – habe ich bei einem einäugigen chinesischen Händler mit einem verfilzten Zopf gegen diesen alten Lehnstuhl getauscht. Der Chinese hat mir versichert, der Stuhl habe früher im Kaiserpalast gestanden. Generationen von weisen Gelehrten sollen darin gesessen haben, um den Prinzen und Prinzessinnen von alten Sagen des chinesischen Kaiserreiches zu berichten. Du siehst, Nelly-Pelly, das ist ein ganz besonderer Stuhl. Ein Stuhl mit Geschichte! Und auch, wenn sich der Chinese die vielleicht nur ausgedacht hat – ich stelle mir immer vor, dass unzählige Hinterteile asiatischer Adliger ihn für mich sozusagen eingesessen haben. Und jetzt passt er zu mir wie maßgetischlert. Ich glaube, Nelly, der Stuhl und ich – wir waren füreinander bestimmt.»
    Bei Nelly zu Hause setzt sich seltsamerweise niemand gern auf diesen Stuhl – er ist einfach zu unbequem. Aber wenn Großvater sie zwischen seinen Reisen besucht, macht er sich immer erst eine große Tasse Tee, lehnt sich genüsslich in seinem Stuhl zurück und fängt dann an, eine seiner spannenden Geschichten zu erzählen. Ach, Großvater. Er würde wissen,
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