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Der Klang des Verderbens

Der Klang des Verderbens

Titel: Der Klang des Verderbens
Autoren: Leslie Parrish
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unterschrieb. Irgendwas in ihr bäumte sich instinktiv gegen die Vorstellung auf, mehr als eine hauchdünne Schneeschicht auf den Straßen ausgerechnet dieser Stadt zu sehen. Baxter konnte es nicht wissen, aber das war definitiv ein wunder Punkt.
    »Ich habe noch nie wirklich weiße Weihnachten erlebt«, setzte Baxter mit einem liebenswert hoffnungsvollen Lächeln hinzu. »Und wenn es während der Feiertage nicht schneit, dann hoffentlich noch irgendwann anders in diesem Winter.«
    »Passen Sie auf, was Sie sich wünschen«, blaffte Ronnie und bemühte sich, nicht allzu heiser und traurig zu klingen. Lieber grob und unwirsch als kummervoll und gebrochen. »Schnee bedeutet immer, stundenlang eingeschneite Omas auszubuddeln, die keine Heizung haben, und fünfzig Unfälle auf dem Autobahnring zu beseitigen. Die Leute hier haben vergessen, wie man fährt, wenn mehr als nur Staub auf den Straßen liegt.«
    Baxter zuckte lediglich mit den Schultern und behielt ihr Lächeln bei. Mit ihren leuchtenden grünen Augen sah sie aus wie ein Kind, das sich auf einen schulfreien Tag freut. »Aber früher hat es hier doch geschneit, oder?«
    Natürlich – Ronnie konnte sich noch an blizzardartige Unwetter aus ihrer Kindheit erinnern. Das war jedoch schon seit Jahren nicht mehr vorgekommen, da das Klima sich erwärmt hatte. Womit Ronnie nicht das geringste Problem hatte.
    »Es ist ziemlich lange her, dass mehr als drei Zentimeter lagen. Gott sei Dank.«
    »Aber das war doch bestimmt hübsch. Eine wunderschöne dicke, weiße Schicht, wo man auch hinschaut.«
    Ihr leichter Südstaatenakzent klang für die meisten Menschen wahrscheinlich sympathisch und melodisch, aber in diesem Augenblick hätte Ronnie sich am liebsten Kopfhörer aufgesetzt. Oder was sonst nötig war, damit Baxter nicht von einer flauschigen Decke aus Puder schwärmte, die über der Stadt ausgebreitet lag.
    Das letzte Mal, als dieser Stadtteil von einer regelrechten Sintflut bleichen Puders eingedeckt worden war, war kein kalter Wintertag, sondern ein warmer Herbsttag gewesen.
    Washingtons Wahrzeichen waren einmal in der ganzen Welt berühmt und auf den ersten Blick erkennbar gewesen. Vom Weißen Haus über das Kapitol, das Lincoln Memorial und das Jefferson Memorial bis hin zu den Gebäuden des Smithsonian … sie waren alle prächtig, leuchtend weiß und wunderschön gewesen. Und auch wenn es technisch gesehen falsch war, da so viele dieser Bauten aus Granit, Kalk- oder Sandstein errichtet waren, schien Washington aus glänzendem, weißem Marmor zu bestehen. So viel Weiß.
    An
jenem
Tag der Gewalt jedoch war all das Weiß explodiert, und die Welt war nicht mehr dieselbe wie vorher.
    Wenn sie die Augen schloss, konnte Ronnie immer noch die dicke Schicht aus Schutt und zerbröseltem Zement vor sich sehen, die nach den verheerenden Anschlägen vom 20. Oktober 2017 mehrere Häuserblocks überzogen hatte. Die National Mall hatte ausgesehen wie von einem Blizzard heimgesucht, als hätte man eine Stadt aus dem nördlichen Sibirien hierher verpflanzt. Man hatte den Eindruck, in einer Schneekugel zu stecken, obwohl der Tag von Flammen und Blut durchzogen war, der Himmel von Rauchwolken verdunkelt, die Luft erfüllt von heulenden Sirenen und Schreien des Entsetzens, der Trauer, der Wut.
    Der letzte Anschlag an jenem schlimmen Tag traf das Washington Monument. Ein finaler, grausamer Terrorakt – der Sprengstoff wurde etwas später als die anderen gezündet, um ganz gezielt Notfallhelfer zu töten. Das mag der Rest des Landes vielleicht als nicht so schrecklich empfunden haben wie den Tod des Präsidenten im Weißen Haus, doch für Ronnie sollte es niederschmetternde Folgen haben.
    Die Zerstörung des weltbekannten Obelisken katapultierte Tonnen pulverisierten Marmors und Granits in die Höhe, der noch Stunden später sanft und schneeflockengleich herabsank. Ein Trümmerfeld von hundert Metern Breite und zehn bis zwanzig Zentimetern Höhe umgab das Fundament wie ein Burggraben. Noch zwei Tage nach der Katastrophe, als Ronnie den Ort persönlich betreten durfte, als das Feuer gelöscht und der Rauch verzogen war, fühlte sie sich an dieser Stelle wie im Jenseits.
    Das Schlimmste war – und das hatte sich ihr am schärfsten eingeprägt – das Geräusch. Die weiche, kalkige Schicht hatte unter ihren Stiefeln geknirscht, als Ronnie umhergelaufen war und im Schutt nach Antworten gesucht hatte. Und ihr ganzes Leben lang würde sie sich fragen, ob sie etwa auf die Gebeine ihres
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