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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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als Musik das letzte Bollwerk gegen die Welt draußen war, gegen die immer größere Kälte. Sie wohnten in der einen Hälfte eines dreistöckigen, in einem halben Jahrhundert zu Schokoladenbraun verwitterten Sandsteinhauses im nordwestlichsten Winkel von Manhattan, einem heruntergekommenen Viertel, wo Hamilton Heights in Washington Heights überging und wo die Häuserzeilen so bunt gemischt waren wie ihre Bewohner. Sie wohnten zur Miete, denn David Strom, der Flüchtling, traute der Zukunft nie so weit über den Weg, dass er sich mehr Besitz zugestand, als in einen immer bereitstehenden Koffer passte. Selbst seine Stelle an der Physikalischen Fakultät der Columbia-Universität war etwas so Wunderbares, dass sie ihm mit Sicherheit genommen würde, von den Antisemiten, den Antiintellektuellen, der sich immer weiter ausbreitenden Willkür oder der Wiederkehr der Nazis, die er tagtäglich erwartete. Dass er sich leisten konnte, ein halbes Haus zu mieten, selbst in dieser Gegend, in der gescheiterte Existenzen strandeten, schien David ein unfassbares Glück, wenn er an das Leben zurückdachte, das ihn dorthin geführt hatte.
    Delia, seine aus Philadelphia stammende Frau, hatte sich nie daran gewöhnen können, dass sie zur Miete wohnten; es war ihr so fremd wie
    die abstrakten Theorien ihres Mannes. Sie hatte nie anderswo gewohnt als im Haus ihrer Eltern. Aber auch Delia Strom, geborene Daley, vergaß nie, dass die gnadenlosen Fanatiker dieser Welt durch jede Ritze kommen würden, um ihnen ihr Glück zu nehmen. Und so tat sie alles, womit sie ihrem Mann, dem Flüchtling, den Rücken stärken konnte, und machte aus der stromschen Hälfte des alten Steinhauses eine Festung. Und nichts gab so viel Sicherheit wie die Musik. Die erste Erinnerung aus ihrer Kindheit war bei allen drei Geschwistern die gleiche: Sie hörten ihre Eltern singen. Musik war ihr Mietvertrag, ihre Besitzurkunde, ihr unveräußerliches Recht. Eine jegliche Stimme bezwinge die Stille nach ihrer Bestimmung. Und die Stroms bezwangen die Stille, auf ihre eigene Art, jeden Abend, gemeinsam, in einer Kaskade wirbelnder Töne.
    Erste Melodien wehten schon durchs Haus, bevor die Kinder wach waren. Ein paar Takte Barber aus dem Badezimmer kollidierten mit Carmen aus der Küche. Beim Frühstück summten alle durcheinander, eine vielstimmige Rangelei. Gesang bestimmte selbst die Schulstunden, denn die Eltern unterrichteten die Kinder selbst: Delia brachte ihnen Lesen und Schreiben bei, David lehrte sie Rechnen, bevor er nach Mor-ningside zu seiner Vorlesung über die allgemeine Relativitätstheorie aufbrach. Taktangaben illustrierten die Bruchrechnung. Jedes Gedicht hatte seine Melodie.
    Am Nachmittag, wenn Jonah und Joey von ihren Zwangsausflügen zum Spielplatz bei St. Luke's zurückkehrten, fanden sie ihre Mutter am Stutzflügel, wo sie, die kleine Ruth auf dem Schoß, mit ihren Gospels aus dem engen Wohnzimmer ein Lager an den Ufern des Jordans machte. Eine halbe Stunde im Trio endete regelmäßig mit rituellen Kabbeleien zwischen den Jungen, dem eifersüchtigen Ringen darum, wer als Erster die Mutter für sich allein haben durfte. Für den Gewinner begann eine Stunde schönster Klavierduos, der Verlierer des Tages brachte die Schwester nach oben und las ihr vor, oder sie spielten Karten ohne Regeln.
    Klavierstunden mit Delia waren für den mit Lob überhäuften Schüler binnen Minuten vorbei, dauerten jedoch ewig für den, der wartete, dass er an die Reihe kam. Wenn der Verlierer anfing, von oben jeden Patzer aufzuzählen, machte Delia auch aus diesen Zwischenrufen ein Spiel. Die Jungs mussten von oben Akkorde bestimmen oder Intervalle ergänzen. Sie ließ sie von den entgegengesetzten Enden des Hauses einen Kanon singen – »By the Waters of Babylon« –, und jeder Bruder spann seine eigene Melodie um die ferne Stimme des anderen. Wenn
    bei dem Benachteiligten die Grenzen der Geduld erreicht waren, holte sie ihn dazu, einer sang, den anderen setzte sie ans Klavier, und von oben kamen die eigenwilligen Harmonien der kleinen Ruth, die sich nach Kräften mühte, in die Geheimsprache ihrer Familie einzustimmen.
    Delia war so begeistert von den Tönen, die ihre Jungen hervorbrachten, dass es den beiden manchmal Angst machte. »Ach, Jojo, ihr zwei! Was für Stimmen! Ihr müsst auf meiner Hochzeit singen!«
    »Aber du bist doch schon verheiratet«, rief Joey, der Jüngere. »Mit Pa!«
    »Ich weiß, mein Schatz. Kann ich mir nicht trotzdem wünschen, dass ihr auf
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