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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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Preisrichter rufen seinen Namen. Unsichtbare Menschen jubeln und pfeifen. Für sie ist er der Sieg der Demokratie, wenn nicht Schlimmeres. Jonah dreht sich zu mir um, zögert den Augenblick hinaus. »Joey. Bruder. Es muss doch eine anständigere Art geben, sein Geld zu verdienen.« Er bricht ein weiteres Gesetz, als er mich mit auf die Bühne zerrt, um den Preis entgegenzunehmen.
    Und sein erster öffentlicher Triumph eilt mit Riesenschritten der Vergangenheit zu.
    Danach schwimmen wir in einem Meer kleiner Freuden und gewaltiger Enttäuschungen. Gratulanten stehen Schlange, um die Gewinner zu beglückwünschen. Eine alte, gebeugte Frau berührt Jonahs Schulter; sie hat Tränen in den Augen. Ich staune über meinen Bruder, denn er spielt weiter seinen Part, als sei er wirklich das ätherische Wesen, das sie nach seinem Auftritt in ihm sieht. »Hören Sie niemals auf mit dem Singen«, sagt sie, dann zieht ihre Pflegerin sie hastig weiter. Ein paar Gratulanten später ein stocksteifer Oberst im Ruhestand, bebend vor Erregung. Sein Gesicht ein Schlachtfeld der Feindseligkeit, so sehr aus der Fassung, dass er es selbst nicht zu fassen vermag. Ich spüre seinen gerechten Zorn, lange bevor er uns erreicht, die Wut, die wir bei Leuten seines Schlages schon allein dadurch auslösen, dass wir uns in die Öffentlichkeit wagen. Er wartet, bis er an der Reihe ist, die Zündschnur seines Zorns wird immer kürzer, genau wie die Schlange der Gratulanten. Vorn angekom-men, geht er zum Angriff über. Ich weiß schon vorher, was er sagen wird. Er mustert das Gesicht meines Bruders wie ein unschlüssiger Anthropologe. »Was seid ihr Jungs eigentlich?«
    Die Frage, mit der wir groß geworden sind. Die Frage, die keiner von uns Stroms je verstanden hat, geschweige denn beantworten konnte. Ich habe sie schon so oft gehört und bin doch jedes Mal sprachlos. Jonah und ich sehen uns nicht einmal an. Wir sind daran gewöhnt, zu tun, als sei nichts geschehen. Ich will etwas sagen, die Wogen glätten. Aber der Mann wirft mir einen Blick zu, und ich spüre, dieser Blick ist das Ende meiner Jugend.
    Jonah hat seine Antwort; ich habe meine. Aber er ist der, der im Rampenlicht steht. Mein Bruder holt Luft, als seien wir noch oben auf der Bühne, die kleine Nuance im Atmen, die mich in die Tasten greifen lässt. Einen winzigen Augenblick lang hat es den Anschein, als wolle er »Fremd bin ich eingezogen« anstimmen. Doch dann schmettert er seine Antwort wie ein Buffo in der komischen Oper:
     
    »I am my mammy's ae bairn,
    Wi' onco folk I weary, Sir ...«
     
    »Meiner Mutter Sohn bin ich,
    Fremde Menschen mag ich nicht ...«
     
    Sein erster Abend in der Welt der Erwachsenen, doch er ist noch ein Kind voller Übermut, weil er gerade zu Amerikas neuer Stimme gekürt worden ist. Seine Solo-Zugabe erregt allgemeine Aufmerksamkeit. Jonah ignoriert die Köpfe, die sich nach ihm umdrehen. Es ist 1961. Wir sind in einer bedeutenden Universitätsstadt. Man wird nicht wegen Übermuts aufgehängt. Hier hat man schon seit mindestens einem halben Dutzend Jahren niemanden mehr wegen Übermuts gehängt. Mein Bruder lacht, als er den Vers von Burns zum Besten gibt, er glaubt, er könne den Oberst mit acht Takten Humor zum Schweigen bringen. Der Mann wird aschfahl. Sein Körper spannt sich und zuckt, am liebsten würde er Jonah packen und zu Boden stoßen. Aber die Schlange eifriger Bewunderer schiebt ihn weiter und zum Bühnenausgang hinaus, wo ihn, wie der prophetische Blick auf dem Gesicht meines Bruders längst verkündet, der Schlag treffen wird.
    Das Ende des Defilees bilden unser Vater und unsere Schwester. So sehe ich sie, von der anderen Seite eines Lebens. Noch unsere, noch eine Familie. Pa grinst wie ein gestrandeter Einwanderer, und genau das ist er ja auch. Nach einem Vierteljahrhundert in diesem Land rechnet er offenbar immer noch damit, dass man ihn verhaftet. »Wenn man dein Deutsch hört, könnte man meinen, du wärst ein Polacke. Von wem hast du deine Aussprache gelernt? Eine Schande!«
    Jonah hält unserem Vater die Hand vor den Mund. »Psst, Pa. Um Himmels willen. Erinnere mich dran, dass ich mich nie wieder mit dir in der Öffentlichkeit blicken lasse. ›Polacke‹ ist ein Schimpfwort.«
    »›Polacke‹? Du spinnst. Wie sollen sie denn sonst heißen, Bub.«
    »Ja, Bub.« Ruth, unsere Stimmenimitatorin, trifft den Ton täuschend echt. Sie ist erst sechzehn, aber am Telefon hat sie sich schon mehr als einmal erfolgreich für ihn ausgegeben.
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