Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kalligraph Des Bischofs.

Der Kalligraph Des Bischofs.

Titel: Der Kalligraph Des Bischofs.
Autoren: Titus Müller
Vom Netzwerk:
war er so ausgekühlt, daß er den Erfrierungstod für
     ein wenig Schlaf gern in Kauf nehmen wollte. Er sank auf dem Schnee zusammen. Augenblicke später begann er zu lächeln und
     schmiegte sich in das kalte Pulver, als wäre es wärmendes Stroh. Er spürte nicht mehr, daß es zu schneien begann.
     
    Wie Federn flogen die Schneeflocken aus den tiefhängenden Wolken herab. Ein Wind trieb sie auf die Berge zu, aber sobald sie
     zwischen die Baumwipfel gesunken waren, suchten sie sich einen eigenen Platz.
    Da waren Schweine, die bei der Schlachtung im letzten Winter verschont worden waren und nun unter der Schneedecke nach Eicheln
     und Bucheckern gruben. Sie bewegten sich frei; nur selten schaute ein Mensch nach, wie es ihnen ging, oder zählte sie.
    |17| Die Menschen suchten Holz zum Heizen und um daraus Schuhe oder Schüsseln zu schnitzen. Wie Käfer nahmen sie sich aus an den
     Rändern des riesigen Waldes, einsame, um ihr Überleben kämpfende Käfer.
    Durch die Ritzen in den Fensterläden konnte man sie Wolle zupfen sehen oder Flachs brechen. Einige Unverdrossene arbeiteten
     draußen, reparierten Zäune, bereiteten ihre Gemüsegärten auf den Frühling vor, indem sie versuchten, die halbgefrorene Scholle
     aufzuhacken.
    In ihren Heuscheuern kratzten sie Futter für die Kühe und Schafe zusammen, die sich in den Ställen dicht aneinanderdrängten,
     um sich zu wärmen.
    Die weißen Flocken sanken auf all dies herab, bedeckten die Dächer, bis sich das Holz unter dem Gewicht des Schnees bog, setzten
     sich auf die Schweineborsten und duldeten keinen Farbtupfer außer dem alles regierenden Weiß.
     
    Germunt öffnete die Augen, langsam, so, wie sich an einem Wintermorgen die Sonne über den Horizont quält. Es dauerte eine
     Weile, bis er etwas erkennen konnte. Er lag an einem Hang, hinter sich dichten Wald, vor sich ein riesiges Gebirge. Lange
     starrte er auf die Klüfte, die Geröllfelder, die sich hoch in den Himmel erhoben und Schatten von der Größe vieler Getreidefelder
     aufeinanderlegten. Wenn er ein Vogel wäre, könnte er einfach hinüberfliegen. Er malte sich aus, wie er die Gipfel noch einmal
     umkreisen und für immer hinter den Bergen verschwinden würde.
    Mit diesen Beinen,
dachte er,
werde ich über die Berge laufen. Niemand wird mir folgen. Und dann werde ich frei sein. Ich werde eines Tages zwischen Rebstöcken
     stehen, werde kühle Trauben im Mund zerplatzen lassen und ihren Saft schlucken. Es werden meine Trauben sein, gute Trauben.
     Ich liege nicht mehr lange hier. Bald bin ich unterwegs.
    Sein Gesicht fühlte sich naß an. Er hob die Linke, um darüberzuwischen. Dabei streifte er etwas Warmes, Pelziges; als er die
     Hand vor die Augen hob, war sie rot. Erschrocken sah |18| er zur Seite: Neben ihm lag ein graues Fellbündel, aus dem ein Pfeil ragte. So schnell die gefrorenen Glieder es erlaubten,
     richtete er sich auf und lief ein paar Schritte hinein in den Schnee. Das Herz schlug ihm gegen die Rippen, und er atmete
     stoßend.
    Der Wolfsjäger? Ein Zeichen, daß er mit ihm gehen sollte? Vorsichtig ging er zurück, schob seinen Fuß unter den Kadaver und
     drehte ihn herum. Die Fänge eines Wolfsgebisses blitzten ihn an. Die Beine des Tiers waren abgeknickt wie bei einem Hund,
     der es sich zum Kraulen bequem macht. Eine Blutlache hatte den Schnee aufgetaut; vermutlich hatte ihn der warme Kadaver vor
     dem Erfrieren gerettet.
    Germunt kniete nieder und drehte den Wolf wieder um. Er betrachtete die dunklen Federfetzen, die am Ende des Holzschafts befestigt
     waren.
Nein.
Abrupt stand er auf.
Ich vertraue niemandem mehr, auch nicht diesem Jäger.
Er wandte seinen Blick zum Gebirge.
    Von unbändigem Hunger getrieben, brach er die Schußwunde auf und riß das Wolfsfleisch mit den Zähnen heraus. Er zwang sich
     zum Schlucken, indem er den Kopf nach vorn neigte und so das Schütteln unterdrückte, das ihn zu erfassen drohte.
    Als er den Hang hinablief, schmerzten ihn die Beine bei jedem Schritt, aber er hielt die Augen starr auf die Berge gerichtet
     und humpelte weiter voran. Er erreichte einen neuen Waldrand und hörte unter den Bäumen plötzlich eine Stimme, die ihm bekannt
     vorkam. »Ihr wollt also nicht mit mir gehen?«
    Im Schatten einer Buche, deren Zweige so dicht wuchsen, daß darunter statt Schnees nur dunkle Erde zu sehen war, stand Otmar.
     Jetzt sah er wirklich wie ein Jäger aus: die Sehne auf den Bogen gespannt, den Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken, einen Langdolch
    
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher