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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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nichts, bei gar nichts sein, belehrte er uns, und wenn einer von uns altklug widersprach: »Außer, dass man stirbt«, sagte mein Großvater: »Das ist in der Tat sehr wahrscheinlich.«
    Aber eine kleine Restchance schien er selbst dabei noch zu wittern, und in den letzten Monaten, seitdem sein Körper den angemessenen Verfall aufholte, klammerte er sich an diese Restchance mit einer Ausdauer, die man bei ihm sonst nicht vermutet hätte. Sein Ehrgeiz, nicht zu sterben, wurde nach und nach zu einer ausgewachsenen Obsession. Alle paar Tage mussten wir mit ihm zum Friedhof, wo er dann Grab um Grab abschritt und triumphierend »Jünger«, »Viel jünger«, »Fast gleich alt« rief, und wenn es doch jemand gewagt hatte, erst in gesetztem Alter zu sterben, notierte er sich die genauen Daten, die er dann in die Liste über seinem Schreibtisch übertrug. 79 Jahre 282 Tage, 81 Jahre 6 Tage, 88 Jahre 129 Tage, manche auf der Liste hatte er in den vergangenen Monaten noch überholt, ein paar Namen konnte er noch durchstreichen, dann rief er uns schnell alle zusammen. »Glückwunsch, Großvater«, sagten wir im Chor, und er winkte ab: »Danke, aber noch ist nichts erreicht.«
    Sein später Wunsch, alle zu überleben, nahm schon bald beängstigende Formen an. Der Tod war nicht nur sein Gegner, er wurde auch mehr und mehr zu seinem Gehilfen, genüsslich las er uns beim Frühstück die Todesanzeigen vor, »Das war ein gutes Wochenende«, jedem vorbeifahrenden Krankenwagen sah er hoffnungsvoll nach, er entwickelte eine verdächtige Vorliebe für Katastrophenfilme, und erst in letzter Sekunde konnten wir eines Nachmittags verhindern, dass er die Schildkröte meiner jüngeren Schwester beerdigte. »Sie war klinisch tot, ehrlich«, behauptete er, auch wenn sie in der kaum knöcheltiefen Grube sichtlich mit den Beinen zappelte.
    Es gab Momente in den vergangenen Monaten, in denen wir uns ernsthaft Gedanken um unsere Sicherheit machten. Wenn einer von uns nur hustete, horchte mein Großvater sofort auf, »Das klingt aber gar nicht gut«, und es war nicht Sorge, was da in seiner Stimme mitschwang. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das alles nur einbildete, aber die Vorfälle häuften sich. Meinem ältesten Bruder schenkte er ständig Wein nach, auch wenn dieser betont hatte, noch fahren zu müssen, meine ältere Schwester berichtete von Kratzspuren am Kabel ihres Föhns, und als ich vor einigen Monaten einen Kasten Wasser die steile Treppe hinunter in den Keller trug, schaltete mein Großvater auf einmal das Licht aus. »Entschuldigung«, sagte er, als ich mich umgehend beschwerte, machte das Licht aber auch dann nicht wieder an.
    Ungefähr zu dieser Zeit begann mein Großvater auch, meine Geschwister und mich zu bezichtigen, ihm nach dem Leben zu trachten. Andauernd stimmte angeblich etwas mit seiner Medikation nicht, andauernd wurde ihm angeblich Butter ins Essen gemischt, obwohl er doch auf sein Cholesterin zu achten hatte, andauernd wurden angeblich von irgendwem Fenster geöffnet, damit er sich den Tod hole. »Aber nicht mit mir, meine Lieben«, sagte er dann. »Mit mir nicht.«
    Natürlich wusste mein Großvater, dass er sehr wahrscheinlich nicht unsterblich war und es trotz aller Bemühungen und Vorsichtsmaßnahmen auch niemals werden würde. Ich vermute, dass er beharrlich hoffte, irgendwann zu alt zum Sterben zu sein, irgendwann vom Tod einfach vergessen zu werden, so wie man hofft, von der Telefongesellschaft vergessen zu werden, nachdem man alle Mahnungen ignoriert hat und der Anschluss einfach immer weiterfunktioniert, weil niemand mehr weiß, dass man ihn überhaupt noch besitzt.
    Und in der Tat ist es schwer vorstellbar, dass er nun tatsächlich tot sein soll, dass er sein Leben vollständig zu Ende gebracht hat, weil er sonst nie etwas zu Ende brachte. Früher, als es noch Großmütter gab, manche im passenden Alter, manche nur wenige Jahre älter als wir, hatten sie ihn, eine nach der anderen und in fast identischen Worten, immer wieder dazu aufgefordert, doch in aller Herrgottsnamen endlich einmal etwas fertig zu machen, die Steuererklärung, die seit Jahren unbeabsichtigt zweifarbige Pergola, das Puzzle auf dem Wohnzimmertisch, das uns schon gar nicht mehr auffiel, oder zumindest den Namen für die Katze. »Friedrich oder Vincent« steht bis heute auf ihrem Holzkreuz im Garten.
    Mein Großvater nickte dann stets einsichtig, sortierte ein paar Quittungen oder legte einen Puzzlestein an, dann suchte er sich schnell eine
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