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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick Modiano
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genommen. Auf jeder Etage, an den Doppeltüren, ein Schild mit dem Namen irgendeiner Gesellschaft. Er hatte da geläutet, wo Richelieu Interim dranstand. Die Tür hatte sich automatisch geöffnet. Am anderen Ende des Raums, hinter einer Art Tresen mit Glasscheibe darüber, saß Margaret Le Coz an einem der Schreibtische, wie andere Personen um sie herum. Er hatte an die Scheibe geklopft, sie hatte den Kopf gehoben und ihm bedeutet, er solle unten auf sie warten.
    Er stand immer ein wenig abseits, am Rand des Trottoirs, um nicht vom Strom all jener erfasst zu werden, die um die gleiche Zeit aus dem Gebäude kamen, während ein Klingelzeichen schrillte. Am Anfang hatte er gefürchtet, sie in dieser Menschenmenge zu übersehen, und er hatte ihr vorgeschlagen, sie solle ein Kleidungsstück tragen, an dem er sie leicht erkennen konnte: einen roten Mantel. Ihm war, als würde er bei der Ankunft eines Zuges nach jemandem Ausschau halten, nach jemandem, den man unter den vorbeiflutenden Reisenden auszumachen sucht. Es werden immer weniger. Nachzügler steigen hinten aus dem letzten Waggon, und man hat die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben …
    Sie hatte etwa vierzehn Tage in einer Außenstelle von Richelieu Interim gearbeitet, nicht weit weg, in der Nähe von Notre-Dame-des-Victoires. Er wartete auch hier auf sie, abends um sieben, an der Ecke der Rue Radziwill. Sie war allein, wenn sie aus dem ersten Gebäude auf der rechten Seite trat, und sobald er sie kommen sah, dachte Bosmans, dass Margaret Le Coz nicht mehr Gefahr lief, in der Menge zu verschwinden – eine Furcht, die ihn zuweilen erfüllte, seit ihrer ersten Begegnung.
    An jenem Abend hatten sich, auf der großen Fläche der Place de l’Opéra, Demonstranten vor einer Reihe von CRS -Männern versammelt, die entlang des ganzen Boulevards eine Kette bildeten, offenbar, um eine offizielle Fahrzeugkolonne zu schützen. Bosmans war es gelungen, durch diese Menschenmenge hindurch bis zum Metroeingang zu schlüpfen, bevor die CRS -Männer zum Angriff stürmten. Er war gerade erst ein paar Stufen hinuntergegangen, als hinter ihm Demonstranten nachdrängten und die Menschen auf der Treppe weiterstießen. Er hatte das Gleichgewicht verloren und ein Mädchen im Regenmantel, unmittelbar vor ihm, mitgerissen, und alle beide waren sie vom Druck der anderen gegen die Wand gepresst worden. Man hörte Polizeisirenen. Als sie schon fast zu ersticken drohten, hatte der Druck nachgelassen. Der Strom floss weiter, die Treppe hinunter. Stoßzeit. Sie waren miteinander in einen Metrowagen gestiegen. Vorhin hatte sie sich an der Wand verletzt, und sie blutete an der Augenbraue. Zwei Stationen weiter waren sie ausgestiegen, und er hatte sie zu einer Apotheke gebracht. Nach der Apotheke gingen sie nebeneinander her. Sie trug ein Pflaster über der Augenbraue, und auf dem Kragen ihres Regenmantels war ein Blutfleck. Eine ruhige Straße. Sie waren die einzigen Passanten. Es wurde langsam Nacht. Rue Bleue. Blaue Straße. Dieser Name war Bosmans völlig unwirklich erschienen. Er fragte sich, ob er nicht träumte. Viele Jahre später war er zufällig wieder in diese Rue Bleue gekommen, und ein Gedanke hatte ihn wie angewurzelt stehenbleiben lassen: Kann man wirklich sicher sein, dass Worte, die zwei Menschen bei ihrer ersten Begegnung gewechselt haben, sich in Nichts auflösen, als wären sie niemals gesagt worden? Und dieses Stimmengewirr, dieses Telefongeraune seit etwa hundert Jahren? Diese tausend und abertausend ins Ohr geflüsterten Worte? All diese Satzfetzen von so geringer Bedeutung, dass sie dem Vergessen anheimfallen?
    »Margaret Le Coz. Le Coz in zwei Worten.«
    »Wohnen Sie hier im Viertel?«
    »Nein. Drüben in Auteuil.«
    Und wenn all diese Sätze weiter in der Luft schwebten bis ans Ende der Zeiten und ein bisschen Stille und Aufmerksamkeit genügte, um ihre Echos einzufangen?
    »Dann arbeiten Sie hier im Viertel?«
    »Ja. In einem Büro. Und Sie?«
    Bosmans hatte ihre ruhige Stimme überrascht, die friedliche und langsame Art zu gehen, wie bei einem Spaziergang, diese äußerliche Gefasstheit, die im Widerspruch stand zu dem Pflaster über der Augenbraue und dem Blutfleck auf dem Regenmantel.
    »Oh, ich … ich arbeite in einer Buchhandlung …«
    »Das ist sicher interessant …«
    Der Tonfall war höflich, unbeteiligt.
    »Margaret Le Coz, ist das bretonisch?«
    »Ja.«
    »Also sind Sie in der Bretagne geboren?«
    »Nein. In Berlin.«
    Sie beantwortete die Fragen mit
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