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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick Modiano
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französisches Boxen und Judo. Sogar ein Fechtsaal mit Fechtlehrer sei vorhanden. Und samstags meldeten sie sich an zu einem »Crosslauf« oder einer »Aschenbahn« im Bois de Vincennes.
    »Sie sollten mit uns Sport treiben …«
    Bosmans hatte das Gefühl, er gebe ihm einen Befehl.
    »Ich bin sicher, dass Sie nicht genug Sport treiben …«
    Er schaute ihm gerade in die Augen, und Bosmans hatte Mühe, diesem Blick standzuhalten.
    »Also, kommen Sie mit uns Sport treiben?«
    Ein Lächeln erhellte sein dickes Bulldoggengesicht.
    »Einverstanden mit einem Tag nächste Woche? Ich melde Sie in der Rue Caumartin an?«
    Diesmal wusste Bosmans nicht mehr, was er antworten sollte. Ja, diese Hartnäckigkeit erinnerte ihn an die ferne Zeit in Internat und Kaserne.
    »Vorhin haben Sie mir doch gesagt, Sie mögen keine Banden?« fragte Mérovée mit schriller Stimme. »Die Gesellschaft von Mademoiselle Le Coz ist Ihnen wohl lieber?«
    Den beiden anderen war diese Bemerkung offenbar peinlich. Mérovée lächelte immer weiter, dennoch schien er Bosmans’ Reaktion zu fürchten.
    »Jaja, so ist es. Wahrscheinlich haben Sie recht«, hatte Bosmans leise geantwortet.
    Er hatte sich draußen auf dem Trottoir von ihnen verabschiedet. Sie entschwanden im Gewühl, der Büroleiter und der Blonde mit der getönten Brille gingen nebeneinander. Mérovée, ein Stück dahinter, drehte sich um und winkte noch einmal. Und wenn sein Gedächtnis ihn täuschte? Vielleicht war das an einem anderen Abend gewesen, um sieben vor dem Bürogebäude, als er auf Margaret Le Coz wartete.
    Ein paar Jahre später, gegen zwei Uhr morgens, fuhr er mit dem Taxi über die Kreuzung, wo sich Rue du Colisée und Avenue Franklin-Roosevelt schneiden. Der Chauffeur hielt an der roten Ampel. Genau gegenüber, am Gehsteigrand, stand jemand reglos, sehr steif, in einer schwarzen Pelerine, mit bloßen Füßen in Sandalen. Bosmans erkannte Mérovée. Sein Gesicht war abgezehrt, das Haar kurz geschoren. Er stand da wie eine Schildwache, und immer wenn eines der seltenen Autos vorüberfuhr, zeigte er die Andeutung eines Lächelns. Eine Grimasse vielmehr. Man hätte meinen können, ein Stricher für Kunden aus dem Jenseits. Es war eine Nacht im Januar und außergewöhnlich kalt. Bosmans verspürte Lust, hinzugehen und ihn anzusprechen, doch er sagte sich, dass ihn der andere nicht erkennen würde. Er sah ihn noch durch das Rückfenster und bis der Wagen am Rond-Point abbog. Er konnte den Blick nicht losreißen von dieser reglosen Silhouette in der schwarzen Pelerine, und plötzlich fiel ihm der dicke, weißhäutige Bursche wieder ein, der Mérovée oft begleitete und ihn so sehr zu bewundern schien. Was war aus ihm geworden?
    Es gab unzählige Gespenster dieser Art. Fast immer war es unmöglich, ihnen einen Namen zu verpassen. Also begnügte er sich damit, vage Angaben in sein Notizbuch zu schreiben. Das brünette Mädchen mit der Narbe, das immer um die gleiche Zeit auf der Linie Porte-d’Orléans/Porte-de-Clignancourt fuhr … Zumeist war es eine Straße, eine Metrostation, ein Café, was sie aus der Vergangenheit auftauchen ließ. Er erinnerte sich an die Pennerin im Gabardinemantel mit dem Gehabe eines ehemaligen Mannequins, der er mehrmals und in verschiedenen Vierteln begegnet war: Rue du Cherche-Midi, Rue de l’Alboni, Rue Corvisart …
    Er hatte sich gewundert, dass man unter den Millionen von Einwohnern, die eine Großstadt wie Paris zählt, in langen Abständen zufällig wieder auf dieselbe Person stoßen konnte, und jedesmal an einem Ort, der vom vorangegangenen weit entfernt lag. Er hatte einen Freund gefragt, der Wahrscheinlichkeitsrechnungen anstellte und die letzten zwanzig Jahrgänge der Zeitung Paris Turf untersuchte, denn er wollte bei Pferderennen setzen. Nein, darauf gab es keine Antwort. Bosmans hatte sich gedacht, das Schicksal insistiere eben manchmal. Du begegnest zwei-, dreimal der gleichen Person. Und wenn du sie nicht ansprichst, bist du selber schuld.
    Der Firmenname dieser Büros? Irgendetwas wie »Richelieu Interim«. Ja, sagen wir: Richelieu Interim. Ein großes Gebäude in der Rue du Quatre-Septembre, ehemals Sitz einer Zeitung. Eine Cafeteria im Erdgeschoss, wo er sich zwei- oder dreimal mit Margaret Le Coz getroffen hatte, weil der Winter in jenem Jahr besonders kalt war. Doch lieber wartete er draußen.
    Beim ersten Mal war er sogar hinaufgegangen, um sie abzuholen. Ein riesengroßer Aufzug aus hellem Holz. Er hatte die Treppe
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