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Der Hirte, Teil 3 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)

Der Hirte, Teil 3 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)

Titel: Der Hirte, Teil 3 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)
Autoren: Richard Dübell
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vorbeirasen und schlug dann zu, sah etwas Rundes in einem Helm davonfliegen und einen Körper zu Boden stürzen. Dann verwandelte sich alles in einen Wirbel, der Geist löste sich vom Körper, weil er nicht mehr Teil dieser großen Schlächterei sein wollte, obwohl er Mittelpunkt und Auslöser einer nicht minder großen Schlächterei inmitten all der Gewalt eines riesigen Kampfes war. Er sah Gestalten um sich herum heranrennen, springen, fallen, liegen bleiben … er sah, wie Wolfram unter dem Ansturm mehrerer Gegner zu Boden ging, doch Wolfram trug statt seines Waffenrocks den Habit einer Klosterschwester; er streckte einen Angreifer nieder und sah ihn über den Sand rollen, doch der Sand war weiß und pulvrig und der Angreifer trug ein graues Fell statt eines Kettenpanzers. Er hätte das Kriegsgebrüll und das Wiehern der Pferde und die Befehle und das Aufprallen von Klingen auf Schilde und das schreckliche Zischen der Pfeile hören sollen, doch statt dessen hörte er nur ein qualvolles schnelles Hämmern, das das Hämmern seines Herzens war, und sein eigenes Keuchen. Schließlich gaben seine Knie nach, und er fiel vornüber in den Sand. Der Sand war kalt. Er starrte auf den Körper Wolframs, der schmaler war als er ihn Erinnerung hatte, noch immer den schwarz-weißen Habit trug und zu still lag, viel zu still. Er spürte, wie sein Bewusstsein zu schwinden drohte, und ihm fiel ein, dass es nicht weiter schlimm war, denn Caesar würde ihn aufwecken und davontragen, bevor die Todeskrähen des Schlachtfelds mit ihren gnädigen Messern kamen. Gleich darauf fiel ihm ein, dass Caesar tot war, dass er ihn selbst vor der kleinen Kapelle im Wald getötet hatte, und das Rütteln an seiner Schulter befremdete ihn, weil er sich nicht erklären konnte, woher es kam. Er kroch davon, packte den toten Wolfram bei der Schulter und drehte ihn um (zu leicht, sein Körper war nicht nur zu schmal, sondern auch zu leicht), schob den verrutschen Nonnenschleier beiseite und stierte ihm ins Gesicht.
Das Gesicht seiner toten Frau starrte ihn an, mit weit aufgerissenen Augen.
Die Augen waren gelb.
Wolfsaugen.
„Papa!“
Rainald schloss die Augen und holte Atem. Ihm schien, als wäre es der erste Atemzug nach Stunden des Luftanhaltens. Die Welt um ihn herum wurde stofflicher und der Boden realer. Er blinzelte. Johannes stand neben ihm, zerrte an seiner Schulter und musterte ihn voller Angst.
„Papa, sie sind weg.“
Rainald wandte den Blick ab und suchte den Körper zu seinen Füßen. Es war ein Wolf. Er war tot. Der Schnee um ihn herum war rot. Johannes zerrte weiter an der Schulter seines Vaters, und Rainald schaffte es irgendwie, erst ein Bein und dann das andere anzuziehen und aus seiner knienden Position in die Höhe zu kommen. Schwankend blieb er stehen. Sein Körper fühlte sich wund und roh an. Er wandte langsam den Kopf. Mit dem Wolf zu seinen Füßen waren es sechs, die verstreut um ihn herum lagen. Keiner von ihnen atmete noch. Rainald blinzelte erneut. Schluchzen drang in sein Ohr, und er drehte sich um wie ein Mann unter Wasser. Blanka kauerte auf dem Ast über ihm. Er streckte sich, ächzte, als der Schmerz durch seine Glieder fuhr, und griff nach ihr. Er musste sie fast mit Gewalt vom Baum pflücken, und als ihr Gewicht in seinen Armen lag, taumelte er.
„Du hast sie alle vertrieben, Papa“, sagte Johannes. „Schwester Venia …“, sagte Rainald mit einer ihm fremden Stimme. „Ich habe sie im Stich gelassen. Ich habe sie nicht … ich habe stattdessen …“
Er hatte stattdessen seine Kinder in Sicherheit gebracht. Während die Wölfe die junge Frau getötet hatten, hatte er dafür gesorgt, dass seinen Kindern nichts geschah. Er sah plötzlich einen kleinen Jungen vor sich, der sich in eine Truhe kauerte, ein noch kleineres Mädchen in den Armen, der er den Mund zuhielt, damit sie nicht schreien konnte, und der sich deshalb die Ohren nicht zuhalten konnte, um die anderen Schreie von außerhalb der Truhe auszusperren, die Schreie seiner Mutter. Der Junge hatte getan, was ihm das Richtige erschienen war, hatte das Einzige getan, wozu er in der Lage war. Rainald hatte ebenfalls das getan, was ihm möglich war. Die andere Alternative wäre gewesen … die andere Alternative wäre gewesen, zu Schwester Venia zu eilen und sie alle drei zu verlieren, die Klosterschwester, den Sohn, die Tochter … und am Ende sich selbst.
Er konnte dem Blick Johannes’ nicht länger standhalten. Er wandte sich ab und spähte zu dem dunklen
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