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Der Hirte, Teil 3 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)

Der Hirte, Teil 3 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)

Titel: Der Hirte, Teil 3 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)
Autoren: Richard Dübell
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war totenblass. Er drückte die Hand auf den Verband über seiner Wunde und biss sich auf die Lippen. Rainald sah zu Schwester Venia hinüber, die ihn unverwandt anstarrte. Zu seinem eigenen Erstaunen hörte er sich sagen: „Seht Ihr diesen Baum hier? Der ist … äh … hier an der Rinde … das sieht aus wie ein Auge, seht Ihr?“ „Stimmt“, sagte Schwester Venia.
Rainald beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Johannes sich langsam aufrichtete und ausatmete. Er nahm die Hand von der Wunde.
„Das Auge sieht genau in die Richtung … äh … in die Richtung, von der man sich eine Vierteldrehung abwenden muss, um zu wissen, wohin es zur Furt geht.“
„Erstaunlich.“
Johannes schloss die Augen und holte tief Atem. Etwas Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. Blanka murmelte etwas im Schlaf. Rainald drückte sie an sich. Johannes öffnete die Augen wieder und sah sich um.
„Dann los“, sagte Schwester Venia.
Rainald nickte. „Alles klar bei dir?“, fragte er Johannes. „Mir geht’s gut. Du musst mich bestimmt nicht tragen!“ „Oh, Verzeihung“, sagte Rainald. Er wandte sich ab, bevor das Gefühl, dass er und Johannes sich jemals wieder würden versöhnen können, zu mächtig wurde. Es gab Fehler, die konnten nicht verziehen war, nicht einmal vom eigenen Vater. Johannes stapfte mit gesenktem Kopf an ihm vorbei. Rainald folgte ihm den beginnenden Abhang hinunter, an dem er oft genug vorbeigekommen war, um zu wissen, dass an seinem Fuß die Furt lag, deren Existenz er bisher vor allen hatte geheim halten können und die zu finden es keiner Augen auf Baumrinden bedurfte, schon gar nicht, wenn der Wald hier mit Buchen durchsetzt war und augenförmige Flecke sich an jeden zweiten Baum fanden. Er pflügte durch den Schnee und sah den Wölkchen zu, die vor seinem Mund verpufften wie der Funken guter Laune in seinem Herzen.
„Da drüben ist die Furt“, sagte er.
    „Es ist Wahnsinn!“, sagte Schwester Venia. „Warum kannst du das nicht einsehen?“
Rainald stocherte mit einem langen Ast im Fluss herum. Das Ufer war glitschig, von Eisplatten überzogen und mit Wurzeln durchsetzt. Die Kinder saßen auf Rainalds Pelz an einen Baumstamm gelehnt; Blanka döste unruhig, und Johannes fummelte an seinem Verband herum. Schwester Venia stand mit der für sie üblichen gelassenen Grazie hart am Ufer und schien keinerlei Befürchtung zu hegen, dass sie hineinfallen könnte. Rainald stolperte am Ufer entlang, stieß mit dem Ast ins Wasser und schwitzte, obwohl ihm kalt war.
„Sie muss hier irgendwo sein“, sagte er verbissen. Der Ast stieß auf ein Hindernis, das zuerst nachgab und dann Widerstand leistete: Kies. Er zog ihn zurück und stieß ihn in einem losen Kreis um die Stelle herum wieder in den Fluss. Das Ergebnis war das gleiche. „Na also“, knurrte er. Er zog den Ast heraus und musterte die Länge, die nass war. „Das geht dir bis über die Hüfte“, sagte Schwester Venia. „Wie sollen wir da hinüberkommen?“
„Es ist nicht so tief. Der Ast ist nass von vorhin, als ich keinen Grund gefunden habe.“
Die Klosterschwester verdrehte die Augen. „Hast du schon einmal versucht, Berge zu bewegen?“
Rainald warf ihr einen wütenden Blick zu.
„Mit deinem Glauben, dass das, was du dir wünschst, zur Wahrheit wird, könntest du ganze Landstriche umformen.“ „Wenn ich das könnte, wären wir nicht hier.“
„Nein? Wo wären wir dann?“
„Ich weiß nicht, wo Ihr wärt. Wir und die Kinder wären …“ Rainald brach ab.
Schwester Venia sah ihn so lange an, bis er den Blick senkte. Aus dem Augenwinkel sah er sie nicken. Sie lächelte. Er wollte aufbegehren, doch das Lächeln war weder verächtlich noch mitleidig. Es wirkte fast, als habe sie die Hand ausgestreckt, um die seine kurz zu drücken. Er räusperte sich. „… anderswo“, vollendete er lahm. „Wir wären … anderswo.“ Er wandte sich ab und steckte den Ast erneut ins Wasser. Dann zog er ihn heraus und stellte ihn neben sich auf den Boden. Der nasse Teil des Astes reichte bis an seinen Oberschenkel. „Kein Problem“, sagte er.
Schwester Venia sagte nichts. Sie trat beiseite, als er den höher gelegenen Teil des Ufers erklomm, und sah ihm zu, wie er die Stiefel auszog und die Pelzlappen von seinen Füßen wickelte. Als er mit seinen bleichen Füßen barfuß im Schnee stand und die Zehen wegen der Kälte einkrümmte, fühlte er sich so verlegen, als habe er sich nackt ausgezogen. Sie schien seine Verlegenheit zu bemerken; sie drehte sich wortlos
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