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Der Herr der Ohrringe (German Edition)

Der Herr der Ohrringe (German Edition)

Titel: Der Herr der Ohrringe (German Edition)
Autoren: Myk Jung
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nicht in den Sinn, denn er hatte sich vernarrt in den Ohrring und wollte ihn durchaus für sich behalten. So jubelte er matt, als Saurum zu einem lächerlichen Schattengespenst schrumpfte, verabschiedete sich wortlos von Elendsstiel, der eine tödliche Wunde erhalten hatte, wandte sich um und stolperte fort, um alsbald das Aschentonnengebirge zu überqueren.
    Aber auf dem Rückweg in sein Reich Gondel verhedderte er sich in einem Ilex-Strauch, wobei es ihn piekte; und der Ohrring blieb im Ilex hängen, was keiner ahnte und keiner der Weisen vorhergesehen hatte. IsInDur hingegen zog von dannen, ärgerte sich über seine Abschürfungen, bemerkte den Verlust des Schatzes erst spät und schrieb seine Memoiren auf (schon zu jenem Zeitpunkt) vergilbte Schriftrollen.
    Für beinahe ein ganzes Zeitalter blieb der Eine verschwunden: denn er hing im Ilex, mitten in einem finsteren Wald, der sich unablässig verfinsterte; und nie bemerkte ihn dort irgendjemand. Bis eines Tages zwei seltsam Anzusehende des Weges kamen und sich ebenfalls im Ilex verfingen. Da blieb einer von ihnen am Ohrring hängen, der andere jedoch sah es und wurde neidisch, denn er wünschte sich, dass ihm selber solches widerfahren wäre. Dieser hieß Guelle und hatte einen fiesen Charakter, und jetzt zischelte er: »Hör auf, dich an dem schönen Ohrring zu verheddern – und gib ihn mir, aber am besten nicht langsam, sondern flugs!«
    »Was für ein Ohrring?«, sprach der andere, der gar keine Ahnung hatte, an was er da hängengeblieben war.
    Guelle aber war das egal, und so brachte er den anderen der Einfachheit halber um, denn gerne ersparte er sich lange Reden. Er hatte es auf den Ohrring abgesehen, und jetzt grapschte er sich ihn und wanderte frohgemut zurück zu seinem Volk. Seine Angehörigen aber fragten ihn: »Wo steckt denn der, mit dem du loszogst?«
    Guelle antwortete: » Ich jedenfalls hab’ ihn nicht umgebracht.«
    Diesen Ausspruch fanden alle verdächtig, und argwöhnisch beobachteten sie den Verschlagenen. Auch geschah etwas anderes, Wunderbares: Wenn Guelle den Ohrring im Läppchen trug, dann konnte ihn keiner mehr hören. Die anderen sahen, wie er seine Lippen bewegte, und hörten, dass es nichts zu hören gab. Das kam ihnen wie ein unheilvolles Phänomen vor, und es graute ihnen vor dem Befremdlichen, und sie mieden ihn und verstießen ihn schließlich. Und einsam wanderte Guelle seines Weges, und er fluchte und erfand unschöne Wörter.
    Allein wollte er sein, allein mit seinem frisch erworbenen Schatz, und es zog ihn auf einen hohen Gipfel der Dunstberge und dort blieb er, wohl einige Jahrhunderte lang. 4 Das war eigentlich verwunderlich, denn es war seiner Art normalerweise nicht vergönnt, Jahrhunderte zu leben. Nur verwunderte sich niemand, denn nie kam jemand bei ihm vorbei.
    Jedenfalls blieb Guelle auf dem einsamen Gipfel, inmitten des Schnees und des Eises und solcherlei Gedönses, und das Geheimnis seiner Langlebigkeit war natürlich der magische Ohrring, denn er verlieh seinem Träger eine Lebensspanne, die weit über das Maß sterblicher Wesen hinausging. Leider ohne Guelle damit glücklich zu machen: Statt genüsslich der Unsterblichkeit zu frönen, wurde für Guelle nur ein Jahr ans nächste gereiht, das ihn weiter aushöhlte und zerrissener fühlen machte; und am Ende blieb nur das Verlangen nach dem Ohrring, ein furchtbares Verzehren.
    Irgendwann, viel später, kam ein Wandersmann des Weges, ein kleiner unbedeutender Döskopp aus dem Flauen Land. Jener hieß Bilbord Beutelkinn, und als er den schönen Ohrring im Läppchen des inzwischen Ausgemergelten sah, wollte er ihn für sich haben – was nicht verwundert, denn der Eine besaß eine urseltsame Anziehungskraft. Und so haute er Guelle einfach mitten auf den Mund, nahm sich den Ohrring und zog pfeifend von dannen.
    Bilbord kehrte, nach ein paar unbequemen Abenteuern, die ihm wenig Spaß bereitet hatten (und übrigens in einem eigenen Buch beschrieben werden), in seine Heimat zurück, und also war er wieder im Flauen Land. Er betrat seine Döskopp-Bude, die so etwas war wie ein Loch in der Erde, eine schmuddelige Behausung, in der man sich gar nicht gemütlich auf den Boden setzen konnte, um zu frühstücken. Bilbord durchbohrte sein linkes Ohrläppchen, hängte den Ohrring bisweilen hinein und fühlte sich dann so wohl wie nur irgend möglich. Wenn er sprach, verstand ihn keiner, weil’s nichts zu hören gab – das fand er lustig. Alle anderen Hobbknicks aber fanden es
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