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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris
Autoren: Claude Cueni
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Picardie.«
    »Du solltest stolz sein, in eine solche Familie geboren worden zu sein.«
    »Das ist nicht meine Welt!«
    »Es gibt nur eine Welt, und jeder hat den Platz einzunehmen, den ihm Gott zugewiesen hat. Es gibt keine andere Welt. Du musst erfüllen, was vorbestimmt worden ist.«
    »Es gab einen Vorfahren, der war Kartograph …«
    »Nicolas Sanson«, sagte Jouenne.
    Jean-Baptiste war erstaunt.
    »Dachtest du etwa, ich sei dumm und ungebildet, nur weil ich Scharfrichter bin?«
    »Nein, Meister Jouenne«, log Jean-Baptiste.
    »Hör mir jetzt gut zu, Chevalier, du meinst, auf deinem Geschlecht lastet ein Fluch. Du wolltest ihm entkommen.Du hast deine Familie verlassen, du hast dich bei der Armee verpflichtet, du bist in die Neue Welt gefahren und hast dort gekämpft. Du hast überlebt und bist zurückgekehrt. Du bist desertiert. Du wolltest dem Fluch deiner Familie entkommen, und jetzt bist du mein Geselle. Erkennst du den Fluch? Er folgt dir wie dein eigener Schatten. Du kannst dein Schicksal erkennen, aber du kannst ihm nicht entrinnen. Die Kiefer stemmt sich gegen den Sturm und wird entwurzelt, doch die Weide biegt sich und überlebt. Nimm dieses verfluchte Leben an, und lerne zu vergessen. Der Schmerz entsteht, wenn man zurückblickt, die Angst beginnt zu keimen, wenn man an die Zukunft denkt. Versuch, nur den heutigen Tag zu sehen. Heute fehlt dir nichts. Komm, ich zeig dir etwas.«
    Jouenne ging in die Scheune zurück, nahm den losen Arm vom Tisch und zeigte ihn Jean-Baptiste, der einen Schritt zurückwich.
    »Schau dir das genauer an: Hier beginnt das Schultergelenk. Es besteht aus Oberarmknochenkopf und Schulterblatt. Es wird kaum durch knöcherne Strukturen blockiert, sondern vorwiegend durch Muskulatur gehalten. Ein Faszinosum. Das kannst du nur wissen, wenn du den Teil sezierst. Und helfen kannst du nur, wenn du weisst, wie das Gelenk funktioniert. Eine einfache Entzündung kann beim Anschwellen so viel Raum einnehmen, dass man das Gelenk nicht mehr bewegen kann. Also muss man die Entzündung abschwellen lassen und nicht an diesem Arm herumreissen. Jeder Henker weiss besser Bescheid über die Anatomie des menschlichen Körpers als so mancher Arzt in Versailles.«
    Jean-Baptiste nickte.
    »Ich kann dir vieles beibringen, Chevalier, aber du musst es wollen.«
    »Ich werde Ihr Geselle sein, Meister Jouenne. Aber wenn mein Regiment im Frühjahr die Gegend verlässt, werde auch ich Sie verlassen.«
    Jouenne lächelte kurz und trat dann in den Hof hinaus. Jean-Baptiste blieb in der Scheune. Er ging zu seinem Strohlager und hob die Satteltasche auf. Im Innern war eine kleine Tasche eingenäht. Er tastete sie ab. Auch sie war leer. Er rannte in den Hof hinaus und schrie Jouenne nach: »Da war noch etwas in der Tasche! Sie haben es gestohlen!«
    »Nein«, sagte Jouenne, ohne sich umzudrehen, »ich habe es als Pfand behalten.«
    Wütend stampfte Jean-Baptiste in die Scheune zurück, warf die Satteltasche ins Stroh und legte sich hin.
    »Meister Jouenne beschäftigt sich mit anatomischen Studien«, sagte eine freundliche Frauenstimme. Jean-Baptiste drehte sich um und blinzelte. Vor ihm stand die Magd mit einem Krug Rotwein. Sie mochte knapp dreissig sein und trug schäbige Kleider. Unter dem Stoff zeichneten sich die Konturen ihrer Brüste ab. Sie hatte lange, zierliche Beine und war von hohem Wuchs. Er stand auf und näherte sich ihr. Letzte Nacht hatte er sie gar nicht richtig wahrgenommen. Sie war sehr schön.
    »Am Morgen empfängt er Patienten«, sagte sie, »er betreibt eine kleine Pharmacie. Er kennt sich aus mit den Heilkräften der Natur, doch gegen Abend vollstreckt er Kriminalurteile.«
    Jouenne betrat erneut die Scheune. »Ohne mich würde die Ordnung dem Chaos weichen, ohne mich würden die Throne untergehen.«
    Jean-Baptiste stützte sich an einem Bierfass ab. Darin schwammen undefinierbare Dinge, die aussahen wie menschliche Finger. Sie waren mit einer Schnur befestigt.
    »Es ist genau das, was du siehst«, sagte die Magd, »Finger. Finger von Gehenkten. Sie verbessern das Aroma des Biers. Alle abgeschnittenen Gliedmassen verfügen über magische Kräfte, auch Pflanzen, die unter dem Galgen wachsen, sofern sie nachts bei Vollmond gepflückt werden.«
    Jean-Baptiste blickte sie entsetzt an. »Das ist doch Magie.«
    »Ich heisse Joséphine. Ich bin keine Hexe«, erwiderte sie schmunzelnd, »ich bin die Magd von Meister Jouenne. Es gibt viele Dinge, die wir uns nicht erklären können. Wir glauben
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