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Der heilige Erwin

Der heilige Erwin

Titel: Der heilige Erwin
Autoren: Jasna Mittler
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unterwegs, außer ein paar Schulkindern in bunten Regenjacken, die einfach durch die göttliche Masse hindurchrennen: »Hast du auch eben so ’n Prickeln gefühlt?« – »Ach, bei dir prickelt’s doch im Kopp!«
    Auf der Suche nach dem passenden menschlichen Körper breitet Gott sich in der ganzen Stadt aus und kennt bald jeden Winkel. Schmutzig ist’s auf Erden, pfui Teufel! Ein paar Katzen nehmen fauchend Reißaus, als Er über sie hinwegweht.
    Dann endlich erblickt Gott einen Menschen, der ihm geeignet erscheint: Es ist ein Mann, nicht mehr jung, aber noch kein Greis. Er hat graublonde Haare, die nach allen Seiten vom Kopf abstehen, ein unrasiertes Kinn und einen erstaunlich blauen Blick. Seine Kleidung ist ärmlich, aber er trägt sie mit Würde. Er sitzt im Wartehäuschen einer Bushaltestelle und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Neben ihm auf der Bank liegt ein abgewetzter Schlafsack, den er nun fast liebevoll einzurollen beginnt. Gott ist entzückt. Die klassische Variante: Gott im Bettlerkostüm, wunderbar. Er pirscht sich an seinen Wirt heran, umhüllt ihn und schwupp …
    Erwin wird ganz warm ums Herz, dabei hat er noch gar nichts getrunken. Wie auch, die Flasche ist ja gestern Nacht umgekippt, schöne Scheiße. Aber was ist das? Er fühlt sich so leicht, so weich, so … geliebt? Dicke Tränen kullern ihm über die Wangen, und er kann nichts dagegen tun. Gerade als er sich mit dem Handrücken durch das Gesicht wischen will, vernimmt er eine Stimme: »Erwin.« Erschrocken schaut er sich um, doch da ist niemand, nirgends. Und noch einmal: » Erwin.« Seine Stimme zittert: »Ja?« – »Hab keine Angst. Ich bin dir wohlgesinnt.« Wieder blickt Erwin sich um: »Aber wer bist du?« Gott zögert. Nicht noch einmal dieses Theater wie am Telefon … »Das – das tut nichts zur Sache. Ein Freund, Erwin, ein Freund. Entspanne dich, Erwin. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen …« Und Erwin fühlt Wärme und Geborgenheit und weint wie ein Baby. Die vorübergehenden Passanten schauen starr zur anderen Seite. Erwin lässt sich gehen, er gibt sich ganz diesen schönen Gefühlen hin. Dann verliert er das Bewusstsein.



4

    Z ehn Minuten lang sitzt Gott vollkommen still. Er fühlt Erwins Tränen auf seinen Wangen trocknen, spürt, wie der Wind sein Haar bewegt, und wundert sich über die Schwere des menschlichen Körpers. Geerdet. Ich bin geerdet, denkt Er.
    Dann beginnt Er zu frieren. Erst ein wenig, dann immer heftiger. Das ist ja fies! Abscheulich!! Doch bevor ihn die Verzweiflung übermannt, wird Er von dem Wort ›Bewegung‹ erfüllt. Also erhebt Er sich schwerfällig und probiert einige Schritte. Aua! Erwins Körper ist nicht gerade gut in Schuss. Er heilt ihn von Rheuma, Gicht und Bandscheibenproblemen, schmiert die Gelenke und stärkt die Blutgefäße. Schon besser. Noch ein paar Schritte, ein kleiner Hüpfer, Hüpfer mit halber Drehung, Pirouette.
    Eine ältere Dame hat sich der Haltestelle genähert. Kopfschüttelnd bleibt sie vor der Tanzdarbietung stehen. »Nanana, was sind denn das für Kindereien?« Gott grinst sie breit an: »Ach, es kam so über mich!«, dann packt Er Erwins Schlafsack unter den Arm und geht.
    Stundenlang wandert Gott durch die Straßen. Was für ein Gefühl! Den Boden unter den Füßen spüren, durch Pfützen patschen, Regen auf die Zunge klatschen lassen.
    Er fasst Bäume an und Häuserfassaden, streichelt Hunden durchs Fell und ist alles in allem recht zufrieden mit seiner Schöpfung. Das Frieren hat Er einfach abgeschaltet. Bloß der Gestank macht ihm jetzt noch zu schaffen. Bald jedoch verstopft ihm ein Schnupfen die Nase, und auch dieses Problem ist gelöst.
    Am Flussufer bleibt Gott stehen und beobachtet die vorbeifahrenden Schiffe. Ein paar aufgeplusterte Enten treiben träge auf dem Wasser, sogar ein Schwan ist darunter. Gott schlendert die Rheinpromenade entlang. Als Er an zwei Frauen vorüberkommt, die unter einem gemeinsamen Schirm ein Schwätzchen halten, während ihre Hunde die Grünanlage durchwühlen, hört Er die eine sagen: »Schön wäre ja schon, wenn mal jemand den Regen abstellen könnte!« Gott überlegt nicht lange, schnippt mit den Fingern – was mit nassen Händen gar nicht so einfach ist –, und der Regen hört auf. Die beiden Frauen schauen ihm verblüfft nach, aber Gott gibt sich unbeteiligt, geht weiter und pfeift sich eins.
    Auf einmal beginnt Erwins Bauch zu grummeln. Erst noch verhalten, dann immer aggressiver. Ein beißender Schmerz,
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