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Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918

Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918

Titel: Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918
Autoren: Herfried Münkler
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Reihe von Fehlurteilen und Fehleinschätzungen unterlaufen, aus denen dann Führungsfehler erwachsen sind, die zunächst in den Krieg und dann in die Niederlage geführt haben. Das beginnt beim Bau der deutschen Kriegsflotte und der ihr von Admiral Tirpitz zugedachten weltpolitischen Aufgabe, geht weiter über den vermeintlich genialen Plan des Generals von Schlieffen, das Problem eines möglichen Zweifrontenkriegs zu lösen, und reicht bis zu dem verhängnisvollen Entschluss zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg, der die Mittelmächte endgültig auf die Verliererstraße brachte. Was bei der Analyse dieser Fehlurteile jedoch nicht übersehen werden sollte, ist die Bedeutung von Kontingenz, von Zufällen und unvorhergesehenen Ereignissen, in deren Folge sich manche auf den ersten Blick wohlkalkulierte und lange durchdachte Entscheidung ganz anders auswirkte als geplant. Meist resultierte dies aus überbewerteten Informationen und fehlender Voraussicht. Hätte die deutsche Seite im Frühsommer 1914 beispielsweise nicht durch einen in der Londoner Botschaft Russlands platzierten Spion von den britisch-russischen Gesprächen über eine gegen Deutschland gerichtete Marinekonvention erfahren, dann wäre Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg in den Tagen vor Kriegsausbruch vermutlich auf das britische Vermittlungsangebot eingegangen oder hätte es zumindest sorgfältiger geprüft; stattdessen maß er den britisch-russischen Gesprächen ein größeres Gewicht bei, als ihnen tatsächlich zukam, zumal die Briten beharrlich leugneten, dass es diese Gespräche überhaupt gab. Das dadurch geweckte Misstrauen hatte verheerende Folgen. Hätten die Deutschen umgekehrt zu Beginn des Jahres 1917 gewusst, dass in Russland wenige Wochen später eine Revolution ausbrechen würde, in deren Folge dieser lange Zeit furchteinflößende Gegner (die «russische Dampfwalze») im Sommer 1917 de facto aus dem Krieg ausschied, so hätte sich am 9 . Januar 1917 vermutlich keine Mehrheit für die Eröffnung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges gefunden; die USA wären dann womöglich nicht in den Krieg eingetreten, Großbritannien und Frankreich hätten alleine weiterkämpfen müssen und wären daher wahrscheinlich zur Aufnahme von Friedensgesprächen bereit gewesen.
    Im einen Fall war es ein Zuviel, im anderen ein Zuwenig an Wissen, das über Krieg oder Frieden, Eskalation oder Begrenzung entschied. Dabei hatte die deutsche Seite erhebliche Anstrengungen unternommen, um möglichst wenig dem Zufall zu überlassen. Alle kriegsbeteiligten Mächte sind mit klaren Plänen für ihre Aufmärsche und Offensiven in den Krieg eingetreten, aber bei keiner war dessen Verlauf so präzise und detailliert durchgeplant wie bei den Deutschen. Dass Unerwartetes eintrat, war nicht vorgesehen. Generalstabschef Helmuth von Moltke d.Ä. hatte Strategie noch als ein «System von Aushilfen» definiert, sein Nachfolger Alfred Graf von Schlieffen hingegen war bestrebt, Feldzüge mit der Vorhersehbarkeit und Genauigkeit preußischer Eisenbahnfahrpläne zu führen. Wenn allerdings im Vorhinein festgelegt wurde, bis wohin das deutsche Heer am vierzigsten Tag nach der Mobilmachung vorgestoßen sein sollte, konnte es durch Zufälle schnell aus dem Takt gebracht werden. Der preußische Offizier und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz hat solche unkalkulierbaren Ereignisse als Friktionen bezeichnet und davor gewarnt, diese zu unterschätzen. Schlieffens Kriegsplanung, das «Geheimnis des Sieges», wie man im Generalstab ehrfürchtig dazu sagte, ist nicht zuletzt an ihrer Inflexibilität gescheitert. Zwar folgten die deutschen Truppen mit einer in der Kriegsgeschichte wohl einmaligen Präzision den Vorgaben des Schlieffenplans und standen am vierzigsten Tag nach der Mobilmachung tatsächlich in den Räumen, die Schlieffen für dieses Datum vorgesehen hatte. Die militärische Führung ignorierte dafür aber das Nachschubproblem, sodass die Truppen ihre Ziele in einem Zustand physischer Erschöpfung erreichten, und sie verkannte die Bedeutung der öffentlichen Meinung, die sich international gegen die Deutschen kehrte, als sie in Belgien mit großer Brutalität gegen die Zivilbevölkerung vorgingen. Wenn man sich auf solche Details einlässt, stößt man auf eine ganze Reihe von Paradoxien, die für den Verlauf dieses Krieges typisch sind.
    Man muss sich schließlich bei der Betrachtung des Ersten Weltkriegs von der Vorstellung lösen, dass nur jene Gelehrten Intellektuelle
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