Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition)
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
Werkzeug wie darüber hinaus als eine Art Vorbild: Die Luftblase im Auge der Waage, wenn sie, genau und still, mittendrin die vollkommene Gerade anzeigte, hieß bei ihm »Ruheblase«, und so eine Ruheblase entdeckte er dann auch in sich, oder er selber war die Waage der Ruhe – konnte das sein oder spielen, sowie es darauf ankam. Und so hatte er seine Ruheblase dannauch über die Jahrzehnte hinweg mit ins Spiel, mit in die Arbeit gebracht, und sie hatte sich ein jedes Mal, wie eben nur ein Werkzeug aus den ersten Anfängen des Lebens, bewährt.
    Wie das wieder in Funktion bringen? Er wartete. Er hatte ja Zeit (oder etwa nicht?). Er hörte. Der Regen, der Regen. Nicht nachlassen, Regen! Nicht abbrechen, Rauschen! Ja, Hören, das war es. Und er schaute; schaute um sich, wobei er freilich, wie eine Eule, den Kopf als ganzen drehen mußte, die Augen blieben vorderhand starr. Und als er dann endlich die Tasse fest in der Hand glaubte, fiel sie ihm aus den Fingern und zerbrach. Es war seine Reisetasse gewesen, die er überallhin mitnahm, in der Einbildung, der Kaffee, Tee oder was auch immer schmecke nur durch sie, durch ihre Form und ihr Material, so wie es sich gehöre. Da lag sie in Scherben, seltsam großen, ihm entfallen in einem letzten Nachzittern. Immerhin war das Zittern nicht von Dauer gewesen.
    Er fügte die Scherben zusammen, mit einem Klebstoff, den er in dem fremden Haus auf Anhieb gefunden hatte. Ja, fremd war das Haus der Frau weiterhin, obwohl er nun schon seit Jahren da übernachtete, fremd in dem Sinn, daß er die meisten der Räume bislang nicht betreten und weder einenSchrank noch eine Lade geöffnet hatte. Dann schnitt er das Brot an, eine vollkommene Scheibe, was für ein herzhaftes Geräusch, und sagte laut zu sich selber: »Kein Tag ohne Brotschneiden.« Wie er doch mit solchem Schneiden alle die vor ihm wurde und frisch verkörperte. (Auch die nach ihm? Das war nun keine Gewißheit.) Die Tasse war gleich dicht verfugt, und er warf die Klebstofftube in Richtung der offengebliebenen Lade: genau an ihren Platz. Und wiederum zu sich selber: »Bist immer noch der Meisterwerfer, Freund. Solltest mit einem deiner Spielernamen Werfer heißen!«
    Musik: keine. Die Regenmusik genügte, zumal inzwischen der Wind dazugestoßen war, aus allen Richtungen auf das Haus zu. Der frischte auf und umbrauste jetzt, zusammen mit dem Regenstrom, das ganze Haus, in Wellen, die an Lautstärke zunahmen. Dieser Wind, rund um die Hausmauern, brandete heran, und brandete, und brandete. Und von neuem sagte der Mann an dem Küchentisch in einem lauten Selbstgespräch: »Ah, der Wind, wie er rauscht. Im Umkreis. Im Erdkreis. Es ist also doch noch etwas zu machen dahier. Zu bewerkstelligen. Solch ein Wind ist ein Wert!« Ein wann und wie auch immer draußen im Grasland umgefallener Stuhl wurde von dem Wind wieder aufgerichtet,und stand dann, und stand. War das denn ein Ding der Möglichkeit? Ja.
    Der Schauspieler gab sich den Anschein, als gehöre das Kauen des Brots, als gehöre auch jeder Schluck zur Vorbereitung auf das, was bevorstand; als sammle er sich so, essend und trinkend. Mitten in der Zeremonie sprang jedoch die Küchentür auf, die wie alle Haustüren unversperrt war und unmittelbar ins Freie, ins Grasland, ging, und ein Mann, in Gestalt eines Regenmenschen – ein Schneemensch, gäbe es den, wäre gegen den Anblick nichts gewesen –, schrie sofort los, wobei er auf der Türschwelle, unter der Traufe, innehielt: »Sie lieben sie ja überhaupt nicht. Ich dagegen liebe diese Frau, ja, ich. Lassen Sie meine Frau in Ruhe. Ja, meine Frau. Denn eines nicht mehr so fernen Tages wird sie die Meine sein. Tausend Nächte haben Sie mit ihr verbracht, und haben kein einziges Mal dabei etwas wie Liebe empfunden. Verschwinde, Falschspieler. Mach Platz. Die Frau gehört mir, mir!« Und dies gesagt, in einem Akzent, welcher vielleicht eher aus der Erregung kam, zog der Regenmensch die Tür, erstaunlich sacht, wieder zu und war weg. Kurz vor seinem Erscheinen hatte der andere ein wie morgendliches Bedürfnis nach einer ersten menschlichen Silhouette gespürt, an die er sich taglang halten würde, als an eine »Formgabel«(wie »Stimmgabel«). War der Eindringling solch eine Silhouette gewesen?
    Mein Schauspieler frühstückte daraufhin erst einmal ruhig weiter, aß Bissen für Bissen, trank Schluck um Schluck. Wahr: Er liebte die Frau nicht, hatte es ihr auch gesagt, am Anfang, später noch einmal, und dann hatte es sich wohl
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher