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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition)
Autoren: Peter Handke
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und überhaupt. Wo das Gras noch aufgerichtet war, wischten ihm die triefnassen Sommerähren über Hüften und Bauch. Er wusch sich dann so, indem er sich bückte, die Achseln, das Gesicht, die Augen und Ohren, die Haare. Der Regen fiel weiterhin, gleichmäßig und kräftig. Und in der Tat kam von ihm eine Kraft. Man wurde unbändig in ihm. Der Regen war warm, und nach einigen Schritten kalt, dann wieder warm, undsofort. Er würde im Haus keine Dusche zu nehmen brauchen.
    Ein großer dunkler Vogel brach aus der Grastiefe und pfeilte mit einem Gellen oder Zetern in den Wald, immer im Tiefflug, mit dem das Dunkle an ihm jäh in ein Gelb umschlug. Der Schauspieler hatte den Namen des Vogels einmal gewußt. Aber inzwischen hatte er ihn vergessen, auch das war so beschlossen, wie bei fast sämtlichen Namen. Dafür redete er hinter ihm her, wie er das früher kaum je gehalten hatte: »He du. Nicht so schnell. Ich tu dir ja nichts. Komm zurück und laß dir was erzählen.« Und da er gewohnt war, auf die eigene Stimme zu achten, fiel ihm auf, wie tonlos die sich anhörte. Die Worte an den Vogel waren das erste, was er an diesem Tag gesprochen hatte. Doch ihm kam vor, es seinicht die rechte Stimmlage gewesen. Und so sagte er die Worte noch einmal, versuchte es wieder und wieder, bis, während der gelbbäuchige Vogel längst verschwunden war, das an ihn Gerichtete und seine Stimme in einer Art Einklang waren.
    In der Küche war das Radio an, der Ton so leise gestellt, daß wieder ein Eindruck von Sphären entstand, von anderen freilich als von den Kurven der Schwalben. Es wurden gerade, wie vorhin schon, und wieder und wieder, die Weltnachrichten verlesen, und die kaum hörbaren, oder so vielleicht desto hörbareren Sprecherstimmen kamen wie aus dem fernsten Weltraum, gerichtet an ein anderes Universum. »Hier Radio Venus.« – »Hier Radio Kassiopeia.«
    Während er zuhörte, brach das Regenrauschen ab, von einem Moment zum andern. Aber nein, das Rauschen war gleichmäßig stark weitergegangen. Als er seiner inne wurde, schaltete er das Radio ab und zog, nein, riß zusätzlich den Stecker heraus. Er, der sonst für alles einen umstandslosen Zugriff hatte, griff dann, indem er die Hand nach dem Brot ausstreckte, daneben, und gar mehrere Male. Nicht bloß daneben tappte er, er kam an den Laib nicht heran, nicht und nicht. Jede Kraft war aus seinen Armengewichen, dem rechten, mit dem er nachzugreifen versuchte, ebenso wie dem linken.
    Das setzte sich an anderen Dingen fort. Die Tasse, die er an sich heranziehen wollte; der Löffel im Honigglas; die Zitronenscheibe; die Blume in der Vase auf dem Küchentisch; das daneben aufgeschlagene Buch: es gelang ihm nicht einmal, sie mit den Fingerspitzen zu berühren, geschweige denn, sie anzufassen. Er, ein Meister der Bewegungsfolge – vom, sagen wir, Landkartenzuklappen zum Hutaufsetzen, Türklinkendrücken, über die Schulter den Abschiedsblick Werfen, in der offenen Tür ganz woandershin Schauen, zuletzt noch den Rucksack oder das Sattelzeug Schultern –, geriet jetzt, wie er da in der fremden Küche stand, mit seinen Bewegungen, eher schwachen Versuchen dazu, durcheinander, wollte sich mit einer Hand durch das Haar fahren und verfing sich dabei schon unten an der Gürtelschnalle, während die andere Hand, in der Hosentasche weniger zur Faust geballt als verkrampft, sich da eingeschlossen nicht und nicht herausziehen ließ, worauf auch noch die beiden Hände miteinander über Kreuz kamen und zuletzt vielleicht zusammen, heillos eingesackt, in derselben Tasche steckten.
    Der Schauspieler hatte dann doch, mit der Zeit, ein eher freudloses Lachen, wie es in den Detektivromanen von Raymond Chandler heißt. Zugleich stand ihm der Schweiß auf der Stirn, perlte ihm sogar aus dem Handrücken. Als er jetzt auf den wie für ihn bereitgestellten Hocker sank, fiel ihm zugleich der Kopf hintüber in den Nacken, mit einer Gewalt, als werde er von ihm abgetrennt; als träfe ihn da jener Genickschlag, welcher in der Sekunde tötete. Und er war doch so stolz gewesen auf seinen starken, unbeugsamen Hals.
    Er konnte schon wieder lachen – wie man von einem Kind sagt –, aber die Schwäche, in das innerste Herz gestoßen, wich nicht recht von ihm. Er zitterte. Er, der sonst die Seelenruhe und die Erdenschwere verkörperte, war zittrig. In seinen Jahren als Fliesenleger an der Seite seines immer ungeduldigen, reizbaren und unduldsamen Vaters war ihm die Wasserwaage das bevorzugte Ding gewesen, als
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