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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition)
Autoren: Peter Handke
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war er, werweißwarum, augenblicks zu erkennen, auch in einer Menge, und selbst im hintersten Hintergrund. Das war jeweils etwas anderes als ein bloßes Erkennen oder Wiedererkennen, und keine Frage des Lichts. Oder doch – nur eben nicht einer Beleuchtung – oder doch. Schon in der ersten Einstellung war er herauszuriechen, im Guten wie im Bösen, da noch durchdringender, man wollte so einem nicht auf der Straße begegnen, auch nicht am hellichten Tage. Zu Beginn seiner Filmzeit war er noch verglichen worden: ein mehr ins Düstere schlagender Richard Widmark; ein Marcello Mastroianni ohne dessen betonte Nationalität; ein Francisco Rabal, der nie so recht jung gewesen war. Später genügte er als er.
    Seit ein paar Jahren war er nicht mehr aufgetreten, weder auf einem Theater noch im Film. Weiter voll Achtung für seinen Beruf und, wenn nicht stolz, so doch erfüllt und dankbar für die Zeit mit ihm, erachtete er sich selber nicht mehr als Schauspieler. Jemand, der, auch in seinen Mußeperioden, nicht beständig, nicht tagaus, nachtein mit dem Problem, dem schönen, dem einengenden, dem befreienden, dem beglückenden und peinigenden Problem des Darstellens lebte, hatte, nach ihm, kein Recht, sich Schauspieler zu nennen, ein Wort, das für ihn eine andere Bedeutung hatte als für nicht wenige. Wort, Name »Schauspieler«: ein Klang.
    Nicht mehr zu spielen, das war kein freier Entschluß. Andererseits war es mit den Rollenangeboten weitergegangen, als sei nichts gewesen. Und vielleicht war ja auch nichts gewesen. Nur hatte er, wie er sagte, die Gewißheit (wieder seine »Gewißheit« …), von einem Moment zum nächsten, »mit einem Schlag«, es sei für einen Schauspieler, und nicht bloß für einen wie ihn, nichts mehr darzustellen, zumindest in einem Film. Zwar gebe es Rollen, noch und noch, und nicht nur die bekannten, typisierten. Aber es seien keine Geschichten mehr zu erzählen, und mit Geschichte meine er nicht das üblich gewordene »nach einer wahren Geschichte«, sondern Offenbarung, obdas nun die Offenbarung des Gesichts eines Menschen sei, wie einst in den Filmgeschichten von Carl Theodor Dreyer, Robert Bresson, Maurice Pialat, John Ford, Satyajit Ray, oder das Offenbarwerden eines, des Anderen, eines Größeren, des Großen, in dir und mir, oder schlicht das Sich-Offenbaren des kaum erst Geborenen in einem Sterbenden, eines leeren Schuhs als ein Gleichnis für einen stummen Todesschrei, eines aus der Hand fallenden Teelöffels als Gleichnis für einen größeren Fall.
    Auf den Weg gemacht hatte er sich am Vorabend, fort von seinem Haus und seinem Land, nicht eigens wegen der Frau hier. Vielmehr sollte er in deren Stadt und um die herum am folgenden Tag doch noch einmal mit einem Film anfangen, in einer Filmgeschichte auftreten. Diese handelte von einem, der auszieht zum Amoklaufen, zuerst im Kopf, und dann aber … Beim Lesen des Buchs war der Schauspieler sich seiner Sache fast sicher gewesen. Wenn nicht das Buch, so würde er, mit seinem Spiel, seinem Dasein, Stehen, Umsichschauen, der Geschichte zum Augenaufgehen verhelfen. Inzwischen freilich wußte er nicht mehr.
    Während dieses Hin und Her war er aufgestanden. Das leere Bett. Im offenen Fenster der Regen. KeinWind. Vor dem Fenster, im Abstand, die Bäume eines Waldrands, eine unregelmäßige Zeile. Davor ein Garten, eher eine Wiese, so leer, nur das Sommergras, hüfthoch, stellenweise vom Gewitterguß geknickt oder zu Boden geklatscht. Das Fenster war eher eine Glastür, mit zwei weiten Flügeln, die oben fast zum Plafond reichten. Das Zimmer gehörte zu einem Haus, einem einzelstehenden, jahrhundertalten. Es war einmal ein Jagdhaus gewesen und wurde nun bewohnt von der Frau. Sie konnte sich das leisten, sie führte in der nahen Kapitale ein Unternehmen, welches oder was für eines, wollte er nicht wissen, bereits die eine Information war ihm fast zu viel.
    Geruch der aus dem Wald dahergewehten und in schaumigen Wellen das Grasland durchziehenden Blütenschnüre der Edelkastanien. Im Regenhimmel oben die Sphärenflüge, die einander durchkreuzenden, der Schwalben, so hoch oben, als nähmen sie das Blau und die Sonne vorweg. Aber schon vorher waren die Schwalben hoch, womöglich noch höher als jetzt, durch die Lüfte und die von Blitzen zuckenden Finsterwolkenbänke geflitzt und hatten den Spruch von ihrem Tiefflug vor Gewittern spielend Lügen gestraft.
    Er ging nackt, wie er war, ins Freie. Niemand konnte ihn sehen, so hatte er es beschlossen,
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