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Der Goldschmied

Der Goldschmied

Titel: Der Goldschmied
Autoren: Roland Mueller
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noch nicht besonders hoch. Trotzdem versprach dieser Tag wieder heiß und schwül zu werden. Die Frau litt besonders unter der Hitze. Ihre Haut war sehr hell und das Haar blond, mit einem Stich ins Rote.
    Eyleen Carlisle schwitzte. Der Schweiß lief ihr über die Stirn ins Gesicht und brannte in ihren Augen. Er lief in kleinen Rinnsalen an ihren Beinen herab, sammelte sich überall an in ihrer Cotte. Aber selbst jetzt wagte sie es nicht, ihre leinene Haube abzulegen. Denn es war Sitte, dass züchtige Frauen eine solche trugen. Ohne diese Kopfbedeckung aus dem Hause zu gehen, schickte sich einfach nicht. Dann konnte sie ja gleich kokett mit den Hüften wackeln, so wie es die liederlichen Frauen so gerne taten.
    Vielleicht sollte ich auch gleich noch die Brüste schnüren, so dass sie hervortreten wie pralle Kürbisse, die zum Verkauf liegen?, dachte sie manchmal für sich.
    Alles Torheiten, welche sie nicht mitmachen würde. Nur um einem Kerl zu gefallen! Eyleen war Witwe. Bert, ihr Mann, starb vor drei Jahren am Fieber. Fünf Kinder hatte sie ihm geboren. Zwei Knaben, Gwyn und Sid, waren noch am Leben. Die anderen drei hatten die ersten Monate nach ihrer Geburt nicht überlebt.
    Eyleen war keine Unfreie mehr, so wie ihre Mutter. Bert, ihr verstorbener Mann, war arm gewesen, aber ein freier Mann, der niemandem etwas schuldig war.
    Für sie und ihren Sohn Gwyn sollte heute ein wichtiger Tag sein. Vielleicht sogar der Beginn eines anderen Lebens? Zumindest wünschte Eyleen sich dies immer wieder in all ihren Gedanken. Aber wer wusste dies schon im Voraus zu sagen? Deshalb war sie jetzt am frühen Morgen unterwegs, bevor London wieder eine hitzeflirrende und stinkende Stadt wurde.
    Gwyn, ihr Erstgeborener, begleitete sie. In ihn hatte sie von Anfang an all ihre Hoffnungen gesetzt. Mehr als in Sidney, genannt Sid, den Jüngeren ihrer beiden Söhne. Sid, dieser sanfte blonde Junge, dessen plötzliche Wutausbrüche unberechenbar erfolgten.
    Sie hoffte sehr, London noch vor der schlimmsten Mittagshitze durchqueren zu können. Jetzt, am 26. Tag des Monats September im Jahre 1115 des Herrn, schien die Stadt nur aus Menschen zu bestehen. In den Straßen und Gassen wimmelte es von allerlei fahrendem Volk, Händlern, Krämern, Kriegsknechten und Edelleuten, Bettlern, Gauklern und Flüchtlingen, Freien und Unfreien. Dazu trieben die andauernden Fehden der Earls im südlichen Britannien allerlei gestrandetes Volk in die Stadt. Jeder versuchte, am Leben zu bleiben. Zum Sattwerden gereichte es nur wenigen Menschen.
    Als sie den Viehmarkt queren wollten, wurde es noch enger. Die Menschen drängten und schoben ihre riechenden, schwitzenden Leiber zwischen kargen Ständen und magerem Vieh vorbei. Immer begleitet von bösen Verwünschungen und wilden Flüchen, handelten hier die Menschen mit den wenigen Rindern und Ziegen, Schafen und Schweinen, die bei der langen Hitze noch nicht verendet waren. Der Magistrat der Stadt hatte Lästern und Fluchen bei Strafe verboten. Wer ertappt wurde, dem brachte der Henker bei, dass man keine Flüche wider Gott und die Obrigkeit schrie: Dem Schreier wurde öffentlich die Zunge herausgeschnitten! Doch schien hier niemand diese Tortur zu fürchten. Die Menge sich bewegender Menschenleiber gab einem Fluchenden Schutz.
    Gwyn hatte von Pater Well nicht nur Lesen und Schreiben gelernt. Der Mönch von den Frommen Brüdern hatte seinem stets wissbegierigen Schüler von der Kraft des höflichen Wortes erzählt.
    So haftete seinem Auftreten eine ganz besondere Würde an, wie man sie sonst bei einem so jungen Burschen aus einfachen Kreisen nicht vermutet hätte. Mehr noch: So, als wüssten die Menschen, wer da des Weges kam, wichen sie zur Seite. Rempelte doch einmal jemand unsanft, beeilte er sich, eine Entschuldigung zu murmeln. Eyleen war ein wenig stolz, wenn sie dies beobachtete. Aber das war sie immer in Gegenwart ihres Ältesten.
    »Mutter! Glaubt Ihr … er wird mich aufnehmen«?, fragte er sie, und er zögerte einen Moment bei seiner Frage.
    Eyleen schnaubte durch die Nase, ganz so, als ob ihr Staub hineingeraten wäre. Sie wollte jetzt nicht darüber sprechen. Aber nachdenken musste sie über die Frage ihres Sohnes wohl. War ihr Ansinnen nicht zu vermessen? Sie waren nichts. Keiner aus der Familie der Carlisles wie auch aus ihrer Sippe war je mehr als ein Tagelöhner gewesen.
    Und Gwyn sollte eine Lehre als Goldschmied beginnen!
    Nachdem sie beide die schmale Themsebrücke hinter sich gelassen hatten,
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