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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas
Autoren: Antje Babendererde
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alte, sauber abgenagte Knochen. Einzelne Nadelbäume aus dem angrenzenden Wald neigten sich tief dem Meer zu, als würden sie von einer unsichtbaren Hand herabgezogen. Einige Häuser, die man offensichtlich zu nah am Strand gebaut hatte, waren von ihren Bewohnern bereits verlassen worden.
    Â»Das ist unglaublich.« Papa war ganz hingerissen. Schon hatte er die Kameratasche und sein Stativ in der Hand. Ich hatte nichts dagegen, dass er hier fotografieren wollte. Das war ein verrückter Ort und ich spürte große Lust, länger zu bleiben und ihn zu erkunden.
    Wir verbrachten mehrere Stunden an der Shoalwater Bay. Mein Vater fotografierte und ich versuchte mit dieser magischen Welt des Meeres und den abgestorbenen Baumriesen Bekanntschaft zu schließen. Das war ein guter Platz, um zu vergessen.
    Noch einmal übernachteten wir in einem Motel an der Straße, diesmal am Rand des Regenwaldes, der am Fuße der Rocky Mountains wuchs. In unserem Reiseführer las ich, wie er entstanden war: durch den warmen pazifischen Strom, der Nässe vom Meer heranbrachte. Sie stieg auf und regnete vor den Rocky Mountains ab. Dieser Steigungsregen, von Winden landeinwärts getrieben, ließ riesige Rotzedern, Sitkafichten und Douglasien wachsen. Meterdicke Stämme, die hunderte von Jahren alt waren. Ihre Äste und Zweige waren flaschengrün gefärbt von Farnen, Moosen und Flechten. Sogar Algen wuchsen in diesem Regenwald.
    Abends lag ich auf meinem Bett und studierte die Karte. Ein Stück weiter östlich, wo die Finsternis des Regenwaldes endete, erhoben sich die Olympic Mountains mit ihren schneebedeckten Gipfeln.
    Â»Die Berge sind ganz nah«, sagte ich und blickte zu meinem Vater auf. »Aber wir haben sie noch kein einziges Mal gesehen.«
    Â»Das Wetter ist schuld. Wenn die Sonne scheint, kann man sie sehen.«
    Â»Aber sie scheint nicht«, stellte ich trocken fest.
    Â»Es kann ja nicht vier Wochen lang ununterbrochen regnen«, versuchte mein Vater mich aufzumuntern. »Aber in den nächsten Tagen soll das Wetter so bleiben. Ich schlage vor, wir fahren erst einmal nach Neah Bay und quartieren uns dort ein. Wenn die Sonne scheint, können wir immer noch in den Regenwald fahren.«
    Schon wieder Versprechungen, dachte ich traurig, ließ es aber dabei bewenden.
    Am späten Nachmittag des nächsten Tages erreichten wir Neah Bay, die Heimat der Makah-Indianer am nördlichen Ende der Olympic-Halbinsel. Am Ortseingang passierten wir zunächst die Station der US-Küstenwache, einen Komplex aus gelben Backsteingebäuden, und gleich darauf sahen wir auf der linken Seite das Museum mit einem Kulturzentrum. Auf der schnurgeraden Hauptstraße fuhren wir vorbei an Wohnhäusern und Trailern, Lagerhallen und einem großen Supermarkt. Rechts in der Bucht lag der geschützte Hafen mit seinen vielen kleinen Booten. Es gab Bootsrampen, eine Tankstelle und zwei Restaurants. Auf der Suche nach einer Unterkunft drehten wir eine Ehrenrunde durch den Ort, bis wir gefunden hatten, wonach wir suchten.

3. Kapitel
    I n Neah Bay gab es nur zwei Motels und wir entschieden uns für das kleinere mit einem bunten Totempfahl davor. Seine einst kräftigen Farben waren verblichen, trotzdem machte er Eindruck auf mich. Die riesigen schwarzen Augen und vor allem das breite Maul des seltsamen Wesens, das er darstellen sollte, sahen Furcht erregend aus. Große weiße Zähne, wie die Tasten eines Klaviers. Eine lang heraushängende rote Zunge. Ein Wolf vielleicht, dachte ich, oder ein Bär.
    Das Motel stand direkt an der Hauptstraße, aber die Zimmer gingen nach hinten auf eine umzäunte Wiese hinaus. Ein paar Nadelbäume standen dort und eine überdimensionale schwarze Satellitenschüssel. Das einstöckige, mit wetterverblichenen Holzschindeln verkleidete Gebäude hatte die Form eines Winkels und sah einladend aus, was man von vielen anderen Gebäuden in Neah Bay nicht behaupten konnte. Den meisten Häusern hätten ein bisschen frische Farbe und ein paar Reparaturen gut getan. Vielleicht gab es hier niemanden, der handwerklich geschickt war, dachte ich. Aber die Trostlosigkeit des Ortes störte mich kaum. Im Gegenteil, genauso wie das Wetter passte dieses graue Indianerdorf zu meinen Gefühlen. Schon hatte ich Sorge, dass mir in den nächsten Tagen die dunklen Farben in meinem Farbkasten ausgehen könnten.
    Die Motelbesitzerin hieß Freda Ahdunko.
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