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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas
Autoren: Antje Babendererde
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wenig sprach, lag ja vielleicht auch daran, dass er es überhaupt nicht gewohnt war, auf seinen Reisen von jemandem begleitet zu werden.
    Nun saßen wir uns am Tisch gegenüber, und wenn er meine Mutter gewesen wäre, hätten wir endlos zu erzählen gehabt. Aber er war mein Vater und es fiel mir schwer, ein Gespräch mit ihm anzufangen. In diesem Augenblick war er wie ein Fremder für mich. Keine Ahnung, wie ich die kommenden vier Wochen mit ihm aushalten sollte.
    Â»Bist du müde?«, fragte er mich schließlich.
    Â»Ja, ein bisschen.So lange im Auto zu sitzen strengt an.«
    Â»Das längste Stück haben wir geschafft«, tröstete er mich. »Wenn wir in Neah Bay sind, bekommst du ein eigenes Zimmer. Aber für die zwei oder drei Male, die wir unterwegs übernachten müssen, werden wir schon miteinander auskommen, oder?«
    Â»Klar«, sagte ich achselzuckend. »Kein Problem.«
    Unser Essen wurde gebracht und ich sah gleich, dass es lecker sein würde. Der Lachs sah frisch aus und das zartrosa Fleisch duftete gut.
    Â»Lass es dir schmecken!«, sagte mein Vater.
    Â»Ja, du auch.«
    Während wir aßen, erzählte Papa, dass er sich in seiner Kindheit sehr für die Indianer der Nordwestküste interessiert hatte und deshalb neugierig darauf war, was ihn im Reservat der Makah erwartete. »Meine Freunde bauten damals Tipis aus Wäschestangen und Bettlaken und jagten die Kühe auf der Wiese herum, als wären sie wilde Büffel. Und ich habe versucht ein Kanu zu bauen. Richtig besessen war ich davon und kriegte es sogar hin.« Er lächelte kopfschüttelnd in der Erinnerung. »Aber als ich es ausprobieren wollte, kippte es jedes Mal um und füllte sich mit Wasser. Irgendetwas hatte ich falsch gemacht. Ich war eben doch kein richtiger Indianer.«
    Ich musste lächeln und erinnerte mich an das vermoderte alte Holzstück am See hinter dem Haus meiner Großmutter. Was übrig geblieben war, hatte tatsächlich die Form eines Kanus. Oft hatte ich dort gesessen und gemalt. Ich hatte geträumt, ohne etwas von den Träumen meines Vaters gewusst zu haben.
    Â»Ich weiß nicht viel über Indianer«, sagte ich. »Nur das, was wir im Englischunterricht besprochen haben.«
    Â»Vielleicht ist das gar kein Nachteil«, meinte er. »Dann bist du unvoreingenommen.« Er schwang die Gabel. »An diesen Indianervölkern ist so vieles faszinierend: ihre Kanus, mit denen sie auf Walfang gingen, ihre riesigen Totempfähle, die sie aus einem einzigen, uralten Zedernstamm herstellen konnten … und die Tatsache, dass sie Sklaven hatten.«
    Â»Sklaven?« Ich runzelte die Stirn und schluckte einen Bissen Lachs hinunter.
    Â»Ja, sie erbeuteten sie auf ihren Kriegszügen und ließen sie die schweren Arbeiten machen. Gerade die Makah waren ein sehr kriegerisches Volk.«
    Â»Jetzt bin ich nicht mehr unvoreingenommen«, sagte ich trocken.
    Mein Vater lachte über mein brüskiertes Gesicht. »Natürlich gibt es heute keine Sklaven mehr«, sagte er. »Jedenfalls nehme ich das mal an. Dafür haben die Makah vor drei Jahren wieder angefangen Grauwale zu jagen.«
    Â»Stehen die nicht auf der Liste der bedrohten Tierarten?«, fragte ich.
    Â»Seit 1996 nicht mehr. Es gibt wieder mehr als 20 000 Grauwale im Pazifik und damit hat sich die Population erholt. Sie sind von der Liste gestrichen worden.«
    Ich schüttelte mit verständnisloser Miene den Kopf. »Wozu müssen sie heute wieder Wale jagen? Gibt es in Neah Bay keinen Supermarkt?«
    Â»Ich hoffe, dass es einen gibt. Sonst müssen wir beide vielleicht auch auf die Jagd gehen.«
    Zum Glück hatte es aufgehört, zu regnen. Wir frühstückten in einem Schnellimbiss und fuhren an der Willapa Bay entlang, bis wir den Ozean erreichten.
    Ich war nicht zum ersten Mal am Meer. Aber als ich an der Shoalwater Bay den Pazifik sah, wusste ich, dass hier alles anders sein würde als in meinen Vorstellungen. Es war wie eine unerwartete Verheißung, ein Versprechen, das mein Herz schneller schlagen ließ.Da war es plötzlich wieder, dieses unbändige Gefühl von Neugier und Erwartung, das mich vor Monaten verlassen hatte.
    Es herrschte Ebbe und der Sandstreifen am Ufer war breit und glatt wie grauer Samt. In der Ferne schimmerte quecksilbern der Ozean. Meterdicke Stämme mit riesigen Wurzeln säumten den Strand, ausgeblichen wie
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