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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas
Autoren: Antje Babendererde
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sehr neu, aber Papa versicherte mir, dass wir uns schnell daran gewöhnen würden. Nachdem wir unser Gepäck in den Kofferraum verladen hatten, verließen wir das Flughafengelände und befanden uns wenig später auf der großen Hauptstraße, die direkt nach Seattle führte.
    Ich hatte nicht viel übrig für große Städte, weil ich auf einem kleinen Dorf aufgewachsen war, in dem nur knapp vierhundert Menschen lebten. Berlin war nie mein Zuhause geworden. Draußen in der Natur fühlte ich mich am wohlsten und am sichersten. Doch trotz der Wolkenkratzer im Zentrum entpuppte sich Seattle als gemütliche Stadt mit viel Grün und bunten, freundlichen Menschen. Das Regenwetter schien ihnen überhaupt nichts auszumachen.
    Auf der Suche nach etwas zu essen landeten wir schließlich in einem Schnellimbiss. Danach mieteten wir uns in ein billiges Motel ein und fielen todmüde in unsere Betten.
    Am nächsten Morgen regnete es nicht mehr, aber der Himmel war immer noch grau. Betongrau. Die Wolken hingen tief, es schien, als würden sie wie eine Decke über der Stadt liegen.
    Papa hatte noch ein paar Einkäufe zu erledigen, deshalb fuhren wir ins Zentrum am Pioneer Place. Vor allem mussten wir uns Regenkleidung besorgen. Dazu waren wir in Deutschland bei unserer hektischen Abreise nicht mehr gekommen.
    Als wir alles Wichtige gekauft hatten, unter anderem auch zwei knallrote Regenjacken – viel zu rot für meinen Geschmack! –, entschieden wir die Stadt zu verlassen und uns auf den Weg an die Pazifikküste zu machen. Vielleicht zeigte sich die Metropole ja auf der Rückfahrt von einer sonnigeren Seite.
    Die Autobahn führte uns durch Städte wie Tacoma und Olympia, Centralia und Cehalis, die zwar wunderschöne, viel versprechende Namen hatten, sich in ihrem einfallslosen Aussehen aber kaum voneinander unterschieden. Tankstellen von Shell und Texaco, verschiedene Fastfoodketten und riesige Supermärkte säumten das Asphaltband der Straße. Monströse Einkaufszentren mit betonierten Parkplätzen – so groß wie Fußballfelder – wechselten einander ab. Amerika eben. Ich hatte mir Vorstellungen gemacht und fand sie noch übertroffen. Was ich sah, erstaunte mich zwar, aber es gefiel mir nicht besonders. Ich sehnte mich nach den endlosen Wäldern und dem Ozean, mit dessen Schilderung mein Vater mich schließlich hierher gelockt hatte.
    Im Pazifischen Ozean gab es Wale. Eine Zeit lang war ich ganz vernarrt gewesen in Wale. Die Wände meines Kinderzimmers hatte ich mit selbst gemalten Walbildern tapeziert und zu meinem ersten Schulfasching war ich als Orca verkleidet gegangen. Das Kostüm aus einem Drahtgestell, bespannt mit schwarzweißem Stoff, hatte meine Mutter selbst genäht.
    Als wir nach Berlin zogen, waren meine Walbilder in einer Mappe verschwunden. Stattdessen hatte ich nun Bäume gemalt. Von meiner Leidenschaft für die großen Meeressäuger war nur ein Bildband übrig geblieben, den Tante Elisabeth mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt hatte.
    Am frühen Abend erreichten wir den kleinen Ort Raymond, wo wir uns ein Motelzimmer nahmen. Hinter den Häusern am Rande der Straße erstreckten sich riesige dunkelgrüne Wälder und hier war der Ozean nicht mehr weit. Die Luft roch salzig, nach Tang und nach Fisch. In dem kleinen Restaurant, das wir aufsuchten, nachdem wir unser Zimmer bezogen hatten, standen Meeresfrüchte aller Art auf der Speisekarte. Mein Vater mochte Muscheln, Krabben und Langusten. Er war auf seinen vielen Reisen zum Feinschmecker geworden und nach den ewigen Pizzamahlzeiten der letzten Wochen hatte er offensichtlich Nachholbedarf.
    Er bestellte sich Muscheln mit Knoblauchsoße und ich hatte mir gegrillten Lachs und Folienkartoffeln ausgesucht. Ich verspürte zwar Hunger, hatte aber keinen Appetit und aß nur aus Vernunftgründen. In den letzten Wochen war ich furchtbar mager geworden, was mir sehr zu schaffen machte. Ich wünschte, meine Brüste würden ein bisschen wachsen, aber dafür musste ich natürlich auch was tun. Genug Essen eben, selbst wenn es keine Freude machte.
    Während der Fahrt hatten Papa und ich nicht viel gesprochen. Ab und zu ein paar organisatorische Dinge und hin und wieder hatten wir uns über die Eigenheiten des Landes ausgetauscht. Die meiste Zeit herrschte jedoch Schweigen. Ich hatte das Reden irgendwie verlernt, und dass mein Vater so
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