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Der Gefangene

Titel: Der Gefangene
Autoren: John Grisham
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geboren worden, und er wäre am liebsten tot. Er schämte sich dafür, dass er anderen so viel Kummer bereitet hatte, vor allem ihren Eltern. Er wollte zu ihnen, ihnen sagen, dass es ihm leid tue, für immer bei ihnen sein. Kurz nach seiner Entlassung fand sie ihn eines Tages in ihrer Küche, wo er am Fenster stand und mit entrücktem Blick nach draußen starrte. Er packte ihre Hand und sagte: »Bete mit mir, Annette. Bete, dass mich der Herr jetzt, in diesem Augenblick, heimholt.«
    Ein Gebet, das ihr nicht möglich war.
    Als Greg Wilhoit zu Thanksgiving nach Hause kam, verbrachte er zehn Tage mit Ronnie. Obwohl sich Rons Zustand schnell verschlechterte und er mit Morphium sediert wurde, unterhielten sie sich stundenlang über das Leben in der Todeszelle. Natürlich war es furchtbar gewesen, aber im Nachhinein nahmen sie es mit Humor. Im November 2004 wurden die Verurteilten in Oklahoma im Rekordtempo hingerichtet. Viele der alten Zellennachbarn waren mittlerweile tot. Ron wusste, dass er ein paar von ihnen im Himmel wiedersehen würde. Die meisten nicht. Ron sagte zu Greg, er habe das Beste im Leben gesehen und das Schlimmste. Es gebe nichts mehr, was ihn noch interessiere, und er sei bereit zu sterben.
    »Er hatte seinen Frieden mit dem Herrn geschlossen«, sagte Greg. »Vor dem Tod hatte er keine Angst. Er wollte es nur hinter sich bringen.«
    Als sich Greg verabschiedete, war Ron kaum noch bei Bewusstsein. Er bekam hoch dosiertes Morphium und hatte nur noch wenige Tage zu leben.
    Rons schneller Tod kam für viele seiner Freunde überraschend. Dennis Fritz konnte auf der Durchreise das Pflegeheim nicht finden. Er wollte seinen Besuch bald nachholen, schaffte es aber nicht mehr rechtzeitig. Bruce Leba arbeitete in einem anderen Bundesstaat und hatte vorübergehend den Kontakt zu Ron verloren.
    Kurz vor dem Ende stattete Barry Scheck sozusagen einen telefonischen Besuch ab. Dan Clark, der im Zivilprozess als Ermittler tätig gewesen war, installierte eine Freisprecheinrichtung, und Barrys Stimme füllte den Raum. Das Gespräch war einseitig, denn Ron bekam starke Medikamente und war dem Tod nahe. Barry versprach ihm einen baldigen Besuch, damit sie den neusten Klatsch austauschen konnten. Er entlockte Ron ein Lächeln, als er sagte: »Und wenn Sie es nicht mehr schaffen, dann schnappen wir uns Ricky Joe Simmons. Das verspreche ich Ihnen.« Die anderen lachten.
    Nach dem Telefonat wurde die Familie hereingeholt.
    Drei Jahre zuvor war Taryn Simon, eine bekannte Fotografin, durch das Land gereist und hatte Porträts von irrtümlich Verurteilten und später Freigesprochenen erstellt, die sie in einem Buch veröffentlichen wollte. Sie fotografierte Ron und Dennis und verfasste einen Kurzbericht über ihren Fall. Beide sollten ein paar Worte sagen oder schreiben, die als Begleittext für das Foto vorgesehen war. Ron äußerte sich folgendermaßen:
    Ich hoffe, dass Ich weder in den Himmel noch in die Hölle komme. Am liebsten würde ich einfach einschlafen und nie wieder aufwachen und nie wieder einen Albtraum haben. Ich wünsche mir die ewi­ ge Ruhe, so wie es auf manchen Grabsteinen steht. Ich will nämlich nicht vor das Letzte Gericht. Ich will nicht, dass noch einmal über mich geurteilt wird. Als ich in der Todeszelle saß, habe ich mich gefragt, warum ich überhaupt geboren wurde, wenn ich all das erleben musste. Was war der Grund für meine Geburt? Fast hätte ich meine Eltern verflucht ­ so schlimm war es ­, weil sie mich in diese Welt gebracht haben. Wenn ich noch einmal von vorn anfangen könnte, würde ich lieber gar nicht erst geboren werden.
    Im Angesicht des Todes änderte Ron seine Meinung. Er wollte unbedingt in den Himmel kommen.
    Am 4. Dezember scharten sich Annette, Renee und ihre Familien zum letzten Mal um sein Bett und verabschiedeten sich von ihm.
    Drei Tage später versammelte sich die Trauergemeinde im Bestattungsunternehmen Hayhurst in Broken Arrow zum Gedenkgottesdienst. Rons Pastor, Reverend Ted Heaston, hielt die »Laudatio«. Charles Story, Rons Gefängniskaplan, erzählte anrührende Anekdoten aus ihrer gemeinsamen Zeit in McAlester. Mark Barrett hielt eine bewegende Grabrede, in der er von ihrer ganz besonderen Freundschaft sprach. Cheryl Pilate verlas einen Brief von Barry Scheck, der andernorts für gleich zwei irrtümlich Verurteilte im Einsatz war.
    Der Sarg war offen und gab den Blick auf den blassen, grauhaarigen alten Mann frei. Er sah friedlich aus. Auf dem Sarg arrangiert lagen
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