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Der geduldige Tod (German Edition)

Der geduldige Tod (German Edition)

Titel: Der geduldige Tod (German Edition)
Autoren: Helke Böttger
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Rücksicht nehmen. Die Polizei würde gleich hier sein. Er sah schon die Reflektion des blauen Lichts an den Häuserwänden. Ihm blieben nur noch wenige Sekunden. Auch das Handgelenk wollte er brechen, aber es gab ebenfalls nicht nach.
    Verzweifelt riss und zerrte er, bis das Licht der Polizeisirenen den Parkplatz erreichte. Er hatte versagt.
    Lautlos sprang er auf, lief zum Wäldchen hinter dem Parkplatz, kletterte über den Zaun und verschmolz mit der Nacht.
    Als die Polizei den kleinen, roten Wagen mit der halbtoten, ausblutenden Frau erreichte, war er längst verschwunden.
     

Die Bucht
     
     
    Sie liebte das Schreien der Möwen. Es klang nach Freiheit, nach Meer und Unendlichkeit. Die Schreie hallten von den Klippen wider und übertönten mühelos das Rauschen der Wellen. Wie schwerelos schwebten die Vögel durch die Luft, stießen ins azurblaue Wasser hinab und segelten mit dem Wind davon, als würden sie ihr Leben genießen. Nur wenn die Möwen direkt über ihr flogen, wurde sie wachsam. Zu oft schon war etwas Warmes, Stinkendes auf ihren Kleidern gelandet und hatte unschöne Flecke hinterlassen. Möwenkot war das Unangenehmste, was man einem Kleid antun konnte. Selbst wenn man den Fleck sofort auswusch. Er ätzte die Farbe weg, verdarb den Stoff. Da half rein gar nichts.
    Sie sah zum Himmel, der sich blau und klar über ihr spannte. Es war ein schöner, warmer Morgen, der versprach, zu einem schönen, heißen Tag zu werden. Ein Tag, der ihr die Kraft gab, ihn überleben zu wollen.
    Sie schloss die Tür hinter sich und ging an dem roten Hibiskusstrauch vorbei auf die Straße, die sich kurvenreich durch das Dorf zog. Die bunten Häuser schmiegten sich dicht an die Straße oder klebten vereinzelt am Hang, dazwischen lagen Wein- und Olivenhaine und träumten in der Sommersonne. Zu Füßen ihrer Stämme nickten die Blüten von Storchschnabel und Löwenmaul in der warmen Brise, auch Lattich, Lilien und Sonnenröschen suchten das Licht zwischen den Gräsern. Hinter den Feldern, am Fuße der Berge lag das Meer. Die Gischt glänzte weiß in den gleißenden Sonnenstrahlen, der Wind kräuselte seine Oberfläche wie die Haut eines Neugeborenen. Dort unten tummelten sich Touristen und alle, die von ihnen lebten. Die Urlauber lagen am Strand, bevölkerten die Restaurants, Läden und Märkte. Hier hoch in die Berge kamen die erlebnishungrigen Scharen nur selten. Deshalb hatte sie diesen Ort gewählt. Sie brauchte die Ruhe und Abgeschiedenheit. Hier fühlte sie sich sicherer als im Trubel der Urlauber.
    Sie ging die Straße hinauf. Eine zerzauste Katze sprang vor ihr über den Weg, verschwand geschmeidig im Gebüsch. Es war noch recht früh am Tag, noch nicht zu heiß. Die richtige Zeit für Geschäfte und Einkäufe.
    Mitten im Ort, auf einem Platz mit einem alten Brunnen, befand sich der Markt. Seit Sonnenaufgang hielten hier Bauern ihre Ernte feil, priesen Handwerker ihre Erzeugnisse an. Es gab Gemüse und Früchte aller Farben und Formen, essbare Wurzeln und Knollen, Blumenstände mit Gladiolen, Lilien und Rosen, aber auch schlichte, wilde Blumen, die zwar zarter und zerbrechlicher wirkten als ihre gezüchteten Verwandten, aber eigentlich viel robuster waren. Am Rande des Marktes hatten sich die Kunsthandwerker eingefunden, die ihre Teller und Töpfe anboten, Weidenkörbe, selbstgestrickte Kleider und traditionelle Kostüme.
    Der Markt bestach nicht gerade durch seine Größe, und nur wenige Touristen verirrten sich hierher. Er stand in keinem Reiseführer und erschien in keiner Informationsmappe. Er existierte eigentlich nur für die Einheimischen. Alte, verwitterte Frauen saßen schwatzend im Schatten der Pinien und Mandelbäume, ihre Männer standen am anderen Ende, um sich über Politik zu unterhalten und den jungen Mädchen hinterherzuglotzen. Hausfrauen packten ihre Körbe mit Obst und Gemüse voll, und hin und wieder schaffte es ein Hund, sich ein Stück Brot oder Käse zu schnappen, bevor er mit Knüppelhieben verjagt wurde.
    Sie lief ruhig und ohne Eile zwischen den Ständen hindurch. Die Alten beider Geschlechter musterten sie neugierig, wobei die Männer ihr daraufhin freundlich zunickten, die Frauen dagegen so taten, als hätten sie Besseres zu tun. Die eine oder andere Hausfrau grüßte mit einem kurzen »Buenos dias«, das sie mit dem Versuch eines Lächelns erwiderte. Doch die Menschen interessierten sie kaum, sie ging ihnen aus dem Weg, soweit das möglich war. Sie kannte hier niemanden, der ihr
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