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Der Fürst der Skorpione

Der Fürst der Skorpione

Titel: Der Fürst der Skorpione
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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war über ein Intro befohlen worden, zum Gottesdienst zu erscheinen und Tabea mitzubringen. Soweit Tabea wusste, passierte es nicht sehr oft, dass Vaterfiguren ihre Kinder mit zum Gottesdienst nahmen; es passierte überhaupt nicht oft, dass normale Leute in die Zombiekirche gingen. War nicht direkt verboten, man machte es nur einfach nicht. Tabea fand das Gefasel von Björn wahnsinnig nervig. Vor allem, dass es ihm anscheinend peinlich war. Sie war ihm peinlich. So was machte sie rasend. Und dazu der Regen, der sie beide total einsiffte, weil Björn einfach nicht schneller konnte.
    »Jetzt halt aber mal die Klappe«, sagte sie, »ich dreh noch durch!«
    Björn blieb kurz stehen, blickte Tabea mit seinen wässrigen Augen an und schob seine Hände vor wie ein Trottel. »So«, brachte er langsam hervor, »so redet man nicht mit seiner Vaterfigur.« Tabea lachte hysterisch. Manchmal hatte sie diese Anfälle, sie konnte dann einfach nicht anders. Björn wurde auf diese stille Art zornig, die sie jetzt schon kannte. Packte sie einfach am Kragen und zog sie hinter sich her durch den Regen. »Hör auf! Du tust mir weh!«, schrie sie. »Ich hör auch auf zu lachen!« Da ließ er sie sofort los.
    Der Gottesdienst – oje. Die Kirche war ziemlich groß und voller Zombies. Bei den Christen und den anderen Religionen, das wusste Tabea, saßen alle in den Bänken oder knieten, und vorne wurde geredet, und es gab ein bisschen Theater. Sie hatte in der Schule ein paar Intros zu dem Thema gesehen. Bei den Zombies war das anders. Björn zog am Eingang eine Nummer aus einem Verteilerautomaten, die 406, das konnte sie sehen, als Björn das Plastikplättchen studierte. Dann liefen sie in der Kirche herum. Die Zombies mussten wohl nicht sitzen oder knien, was gut für sie war, weil sie manchmal zur Unruhe neigten. Tabea war die einzige Normale unter Hunderten von Zombies. Es waren nicht nur Vaterfiguren da, sondern auch Kunstmütter. Sie wurden vor allem bei Jungen eingesetzt. Es gab nicht so viele Kunstmütter wie Vaterfiguren, vielleicht etwa halb so viele, warum, wusste Tabea nicht. Angst hatte sie in der Kirche keine, sie dachte nur: »Hier bin ich nicht richtig.« Sie hatte die ganze Zeit das Gefühl, beobachtet zu werden. In der Zombiekirche gab es keine Einrichtungsgegenstände: keine Bänke, keine Bilder, keine Statuen, keine Verzierungen. Nur viele Leute in einem riesengroßen rechteckigen Raum, von dem Dutzende von Türen abgingen. Hellgraue Wände, taubengraue Türen. Die Wiedererweckten schlurften immer an der Wand lang, Björn und Tabea schlurften mit. Plötzlich leuchtete ihre Nummer an einer Tür gleich in ihrer Nähe auf, 406, in Hellorange. Björn öffnete die Tür und sie traten ein.
    Drinnen saß ein Kind auf einem Stuhl. Für Björn und Tabea gab es auch Stühle, sie setzten sich. Das Heilige Kind blickte sie an. Man konnte nicht erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Auf jeden Fall war es viel jünger als Tabea, vielleicht sieben oder acht.
    »Du bist eine gute Vaterfigur, Björn«, sagte das Kind. Es trug einen seltsamen Anzug, Tabea kannte ihn aus dem Geschichtsunterricht: ein Overall. Ohne Reißverschlüsse oder Gürtel. Taubengrau. Am Kragen blinkte ein Licht. Hellorange, wie die Schrift an der Tür. Die Schuhe sahen wie Turnschuhe aus, aber ihr Material wirkte sehr dünn, elastisch und anschmiegsam, fast wie eine zweite Haut.
    »Und du, Tabea«, fuhr das Heilige Kind fort, »bist ein guter Schützling.«
    Tabea unterdrückte ein Kichern. Björn konnte sich vor Ernst kaum bewegen.
    »Denkt immer daran, dass die Siege, die man durch große Anstrengung erringt, nicht so gut sind wie die Siege, die gelassen vorbereitet werden.«
    Tabea verspürte jetzt keine Lust mehr zu lachen. Sie war verwirrt.
    »Ihr müsst jetzt gehen«, schloss das Kind und stand auf. Sie gehorchten. Tabea sah von der Tür aus zurück. Das Kind winkte ihr. Sie dachte: Was für ein Blödsinn. Ich will hier nie wieder her. Obwohl es relativ teuer war, fuhren sie mit der Gleitbahn nach Hause. Tabea starrte die ganze Zeit aus dem Fenster der Kabine. Dass es in einer Stadt regnen musste, die von einer Kuppel überwölbt war, hatte ihr nie gepasst, aber angeblich wäre die Bewässerung der Parks und Gärten sonst zu kompliziert gewesen.
     
     
    Als sie an diesem Abend die große Tüte mit dem Altpapier in den Hof tragen wollte – »Papier ist Rohstoff!« hieß es immer –, fiel sie ihr noch in der Küche aus den Händen. Der Großteil des
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