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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter
Autoren: Eliot Pattison
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Straßenverkäufer mit gefälschten westlichen Markenetiketten feilboten, sondern ein Original, hergestellt von einer Firma in den Vereinigten Staaten. An dem Pullover war eine Anstecknadel befestigt, die aus den beiden gekreuzten Nationalflaggen Amerikas und Chinas bestand. Die Hände des Mannes waren vor dem Bauch verschränkt, so daß er aussah, als hätte er sich in seiner Pension zur Ruhe begeben und würde darauf warten, zum Tee gerufen zu werden.
    Leutnant Chang gewann seine Fassung schnell zurück. »Weiter, verdammt«, herrschte er sie an und stieß Feng nach vorn. »Ich will das Gesicht sehen.«
    »Das muß genau untersucht werden«, sagte Shan, ohne nachzudenken. »Sie können nicht einfach...«
    Der Leutnant verpaßte Shan einen Tritt, zwar nicht allzu fest, aber mit der Bewegung eines Mannes, der den Umgang mit lästigen Hunden gewohnt war. Neben Shan zuckte Jilin zusammen und schirmte reflexartig seinen Kopf mit den Händen ab. Leutnant Chang trat ungeduldig vor und packte die Handgelenke des Toten. Er warf Feng einen mürrischen Seitenblick zu und zerrte den Körper von den restlichen Felsbrocken weg. Im selben Moment wich sämtliche Farbe aus Changs Gesicht. Er wandte sich ab und übergab sich würgend. Die Leiche hatte keinen Kopf.
    »Götzenverehrung stellt einen Angriff auf die sozialistische Ordnung dar«, dröhnte die Stimme eines jungen Offiziers aus dem Megaphon, als die Gefangenen auf eine Reihe klappriger grauer Mannschaftstransporter zumarschierten, die schon seit Jahren nicht mehr im Dienst der Armee standen. »Jedes Gebet ist ein Schlag gegen das Volk.«
    ZERREIßT DIE KETTEN DES FEUDALISMUS, wettete Shan im stillen mit sich selbst, oder DIE VEREHRUNG DER VERGANGENHEIT BEDEUTET RÜCKSCHRITT
    »Der Drache hat gegessen«, rief jemand aus den Reihen der Sträflinge.
    Der Ton einer Signalpfeife ließ ihn verstummen.
    »Ihr habt das Soll nicht erfüllt«, setzte der Politoffizier mit schriller Stimme seine Ansprache fort. Hinter ihm stand ein roter Geländewagen, den Shan noch nie zuvor an der Baustelle gesehen hatte. MINISTERIUM FÜR GEOLOGIE stand auf der Tür. »Ihr habt das Volk beschämt. Man wird euch Oberst Tan melden.« Die elektrisch verstärkten Worte des Offiziers hallten vom Hang wider. Was hatte das Ministerium für Geologie hier verloren? fragte sich Shan. »Die Besuchserlaubnis wird vorerst aufgehoben. Während der nächsten beiden Wochen gibt es keinen heißen Tee. Zerreißt die Ketten des Feudalismus. Erfahrt den Willen des Volkes.«
    »Leck mich am Arsch«, murmelte eine unbekannte Stimme hinter Shan. »Schon wieder lao gai-Kaffee.« Der Mann stolperte gegen ihn, als sie darauf warteten, auf die Ladefläche des Transporters zu steigen.
    Shan drehte sich um. Das Gesicht war neu in dem Arbeitstrupp. Es gehörte einem jungen Tibeter, dessen kleine knorrige Gestalt ihn als khampa auswies, als einen Angehörigen der Hirtenstämme des Hochplateaus von Kham im Osten.
    Als der Mann ihn sah, verhärtete sich sogleich seine Miene. »Wissen Euer Hoheit, was lao gai-Kaffee ist?« knurrte er. Seine wenigen verbliebenen Zähne waren schwarz vor Fäulnis. »Ein Löffel guter tibetischer Dreck. Und ein halber Becher Pisse.«
    Der Mann setzte sich gegenüber von Shan auf die Bank und musterte ihn. Shan klappte seinen Hemdkragen hoch, denn die zerlumpte Plane über dem Stauraum des Wagens bedeutete kaum einen Schutz vor dem Wind, und erwiderte den Blick, ohne zu blinzeln. Er hatte gelernt, daß das Überleben einzig und allein davon abhing, wie man mit der eigenen Angst umgehen konnte. Die Angst mochte einem schwer wie ein Stein im Magen liegen. Vielleicht verbrannte sie einem das Herz, bis man merkte, daß sogar die eigene Seele zu schwelen anfing. Aber man durfte sich niemals etwas davon anmerken lassen.
    Shan war zu einem Fachmann der Angst geworden. Er hatte gelernt, ihre mannigfaltige Beschaffenheit und ihre physischen Reaktionen deutlich zu erkennen. Es bestand zum Beispiel ein großer Unterschied zwischen der Angst vor den Schritten des Folterers und der Angst vor einer Lawine, die auf eine benachbarte Arbeitsgruppe niederging. Und all das war nichts im Vergleich zu der Angst, die ihn nächtelang wachhielt, wenn er sein Miasma aus Erschöpfung und Schmerz durchlebte und befürchtete, das Gesicht seines Vaters zu vergessen. Schon ganz am Anfang, während der verschwommenen Mischung aus Spritzen und politischer Therapie, hatte er begriffen, wie wertvoll die Angst sein konnte. Manchmal war
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