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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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Augenschein ist kaum größer als das durchschnittliche Wohnzimmer eines gewöhnlichen Kriminalbeamten. Gerade dreißig Quadratmeter misst der Raum, aber sein Mangel an Ausdehnung wird durch den Mangel an Einrichtung wettgemacht. Zwei kleine Tische auf dem unebenen Bretterboden, eine Eckbank aus den Fünfzigern, eine Jukebox an der vom Qualm ungezählter Zigaretten patinierten Wand, das ist es. Dahinter die wuchtige Bar, Zentrum und Quelle jener schummrigen Oase, in der keine Milch fließt und kein Honig, nur Bier und Wein und Schnaps, Medizin mit einem Wort, Balsam für die armen Seelen der Krimineser, der Stammgäste von schräg vis-à-vis. Dicht unter der Decke glüht ein großer Heizstrahler vor sich hin, heftig und hellrot, als müsse er nicht nur Wärme, sondern auch Licht geben, als trage er alleine die Verantwortung dafür, das unwirtliche Wirtshaus ein wenig heimeliger zu machen. Er trägt sie auch. Die beiden Lampen über der Bar dienen höchstens als Wegweiser. Ihr kümmerlicher Schein vermag die schwere, rauchgeschwängerte Luft nicht zu durchdringen.
    Krotznig ist schon ins Gespräch vertieft, das obligate Menu vor sich auf der Theke, das Krügel Bier und den doppelten Cognac nämlich. Seine Laune scheint sich auf magische Weise gebessert zu haben, und so schildert er den locker im Raum verteilten Kollegen mit leuchtenden Augen und großen Gesten seine eben getätigte Amtshandlung. Erst als der Lemming zu den Trinkenden tritt, wendet Krotznig den Kopf und verzieht seinen Mund zu einem schiefen Grinsen: «Da is er jo … Na, hast ihm no a Abschiedsbusserl gebn, dem Kameltreiber?» Allgemeine Heiterkeit. Gläserklirren. Ein «Prost, du Sitzbrunzer!» wird laut, dann ein «Auf die Mulis und die Kulis!».
    «Naa, auf die die Mulikuli – Multikultis!»
    Gelächter. Hinter der Theke Dragica, die Kellnerin, bauchfrei und wasserstoffgebleicht.
    «Was trinkta Weltenbürga?», kichert sie dem Lemming zu. Sie weiß, wessen Hände sie füttern, zu wem sie gehört, gehören will.
    Vor acht Jahren ist sie nach Österreich gekommen, kurz nach dem Anpfiff zum ersten Balkankrieg, dem großen Match Kroatien gegen Serbien, täglich vierundzwanzig Stunden, live auf CNN. Der kroatische Unterrichtsminister ließ damals die Schulen schließen, die Kinder in Busse verfrachten und außer Landes bringen. An ihrem elften Geburtstag hat Dragica Abschied von ihren Eltern genommen, vom Haus in Zadar, mit Blick auf den Strand, aufs Meer. Eine beklemmende Nacht im Bus, zwischen Kinderschluchzen und nass geweinten Teddybären, dann der trübe Morgen in Wien, Nieselregen, Häuserschluchten, tief und alt und fremd. Eine Schar Erwachsener unter schwarzen Regenschirmen, sorgenvolle Blicke – die Gasteltern. Rasch sind die Kleinen aufgeteilt und zugewiesen worden, unverständliche Worte, seltsam im Klang, ein Streicheln über Dragas Kopf, Gesten beiläufigen Mitleids. Unbekannte Männerhände haben Dragas Reisetasche ergriffen, haben das Mädchen mit sanfter Bestimmtheit von ihren Freunden, ihrer Sprache weggezogen und, die Straße entlang, ihrem neuen Heim entgegengeschoben. Hier, in dem riesenhaften, reich verzierten Haus, in der Wohnung mit den hohen Räumen, hat Draga eine andere, nie geträumte Welt kennen gelernt. Eine Welt mit dreißig verschiedenen Fernsehsendern und Schränken voller Schuhe, eine Welt mit Seidenpyjamas und Kinderparfum und Gameboys für alle. Ein sonderbares, klimatisiertes Paradies tat sich dem Mädchen auf, kühl, luftleer und ordentlich senkte es sich auf Dragicas Gedächtnis, plättete nach und nach ihre Erinnerungen. Das Meer, der Strand, die Eltern wurden archiviert und abgelegt wie ein zu oft gesehener Videofilm. Und als sie die Nachricht von jenem Bombentreffer erreichte und vom Tod ihrer Eltern, da mischte sich eine kleine, hässliche Freude in ihre Tränen, und die Freude hieß: hier bleiben dürfen.
    Hier bleiben durfte sie, wenn auch ein wenig anders als erhofft. Mit einem ständigen Aufenthalt der Kleinen hatten ihre Gasteltern nicht gerechnet; sie waren vielmehr darauf eingestellt gewesen, ihre Großherzigkeit gerade bis zum Ende des Krieges zu beweisen, um Draga dann, mit Koffern voller Spielzeug und Lebensmitteln versehen, wieder in den Bus nach Zadar zu setzen. Nun mussten sie sich entscheiden: Behielten sie das Mädchen, dann büßten sie ihre Freiheit ein, übergaben sie es aber den Behörden, dann betrogen sie sich um ihr gutes Gewissen. Sie waren Österreicher, und als solche fanden sie
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