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Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Antonio Hill
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Ihrer Umgebung.«
    Héctor hob den Kopf. Nur wenige Male wandte er sich ihm direkt zu. Der junge Mann hielt dem Blick gelassen stand.
    »Sie wissen, dass ich recht habe. Am Anfang, als Sie in die Sprechstunde kamen, haben wir ein ganz anderes Thema behandelt. Ein Thema, das wir nach dem Vorfall mit Ihrer ehemaligen Frau beiseitegeschoben haben.« Er sprach mit festem Ton, ohne zu schwanken. »Ich verstehe, dass es eine schwierige Situation ist, aber sich zu quälen bringt Sie nicht weiter.«
    »Sie glauben, ich quäle mich?«
    »Etwa nicht?«
    Héctor lächelte bitter.
    »Und was raten Sie mir? Dass ich Ruth vergesse? Dass ich akzeptiere, die Wahrheit nie zu erfahren?«
    »Sie müssen es nicht akzeptieren. Nur damit leben, ohne sich jeden Tag gegen die Welt aufzulehnen. Hören Sie zu, und jetzt frage ich Sie als den Polizisten, der Sie sind: Wie viele Fälle bleiben zunächst ungelöst? Wie viele werden erst Jahre später aufgeklärt?«
    »Ich verstehe Sie nicht«, antwortete Héctor und zögerte, ehe er weitersprach. »Manchmal … gelingt es mir, alles zu vergessen, ein paar Stunden lang, während der Arbeit oder beim Laufen, aber dann ist es wieder da. Plötzlich. Wie ein Gespenst. Wartet ab. Nicht wirklich schlimm, denn es klagt nicht an, fragt auch nicht, und trotzdem ist es da. Und gehtso leicht nicht wieder weg.«
    »Was genau ist da?« Die Frage hatte er in demselben neutralen Tonfall gestellt, der jeden Beitrag des Therapeuten begleitete, auch wenn Héctor etwas Bestimmtes herauszuhören glaubte.
    »Keine Sorge.« Er lächelte. »Nicht dass ich manchmal Tote sähe. Es ist nur das Gefühl, dass du …«, er machte eine Pause, suchte nach Worten, »dass du, wenn du lange mit einer Person zusammengelebt hast, manchmal einfach weißt, dass sie zu Hause ist. Du legst dich nachmittags hin, wachst auf und spürst, dass sie da ist, du musst sie gar nicht sehen. Verstehen Sie? So etwas war mir nicht mehr passiert. Ich meine, in der Zeit, als ich von Ruth getrennt war. Erst danach … nach ihrem Verschwinden.«
    Für Sekunden wurde es still. Der Psychologe kritzelte etwas in sein Heft. Dann sprach er wieder, langsam, freundlich, fast vorsichtig.
    »Ist Ihnen etwas aufgefallen, Inspektor? Zum ersten Mal räumen Sie ein, wenn auch nur nebenbei, dass Ruth tot sein könnte.«
    »Wir Argentinier wissen sehr gut, was ›verschwunden‹ bedeutet«, sagte Héctor. »Vergessen Sie das nicht.« Er räusperte sich. »Trotzdem gibt es keine objektiven Anhaltspunkte dafür, dass Ruth tot ist. Nur …«
    »Nur: Sie selbst glauben es, nicht wahr?«
    Bevor Héctor antwortete, blickte er über die Schulter, als fürchtete er, jemand könnte ihn hören.
    »Tatsache ist, wir haben keine Ahnung, was mit Ruth passiert ist. Und das macht einen am meisten fertig.« Er hatte die Stimme gesenkt, sprach mehr zu sich selbst. »Du kannst nicht mal um sie trauern, denn du fühlst dich wie ein Verräter, wie einer, der zu früh das Handtuch geworfen hat.« Er seufzte. »Entschuldigen Sie, aber die Weihnachtstage waren ein bisschen zu viel für mich. Ich dachte, mirbliebe Zeit, um in der Sache weiterzukommen, aber … Ich musste aufgeben. Es gibt nichts. Ich habe nichts gefunden. Es ist verflucht, als hätte sie jemand aus dem Bild gewischt, ohne jede Spur.«
    »Ich dachte, Sie hätten den Fall ohnehin nicht mehr in der Hand.«
    Héctor lächelte.
    »Ich habe ihn im Kopf.«
    »Tun Sie mir einen Gefallen.« Das war immer der Auftakt zum Ende. »Versuchen Sie bis zur nächsten Sitzung, sich jeden Tag, und sei es nur kurz, auf die Dinge zu konzentrieren, die ihr Leben ausmachen, im Guten wie im Schlechten. Nicht auf die, die Ihnen fehlen.«
    Es war fast zwei Uhr nachts, und Héctor wusste, dass er nicht wieder einschlafen würde. Er nahm Zigaretten und Handy, verließ die Wohnung und ging zur Dachterrasse hinauf. Dort würde er zumindest Guillermo nicht wecken. In drei Punkten hatte der Therapeut recht. Erstens sollte er anfangen, diese blöden Schlaftabletten zu nehmen, auch wenn es ihn nervte. Zweitens hatte er den Fall tatsächlich nicht mehr in der Hand. Und drittens, ja, im Grunde war er längst davon überzeugt, dass Ruth tot war. Seinetwegen.
    Es war eine schöne Nacht. Eine dieser Nächte, die einen mit der Welt versöhnen, wenn man es nur zulässt. Die Stadtküste erstreckte sich vor seinen Augen, und etwas in dem strahlenden Glanz der Gebäude, in diesem dunklen, aber ruhigen Meer vermochte es, die Dämonen zu vertreiben, die Héctor in sich
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