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Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Antonio Hill
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vor dem Dreikönigstag, auch wenn man es kaum glauben mag, so angenehm sind die Temperaturen. Einigen Passanten ist das offenbar egal, sie haben sich der Jahreszeit entsprechend warm eingepackt, manche sogar mit Handschuhen und Schal, gleichwohl froh darüber, einen Scheinwinter zu erleben, dem die Hauptzutat fehlt: die Kälte.
    Der Umzug hat schon stattgefunden, und unter den Girlanden aus glitzernden Lichtern wälzt sich der Verkehr wieder über die Fahrbahn. Menschen, Autos, dampfende Churros und heißes Fett, alles überwölbt von den ach so fröhlichen Weihnachtsliedern, deren Texte fast surrealistisch anmuten. Wie es scheint, hat sich niemand die Mühe gemacht, neue Lieder zu schreiben, so dass im Gedröhne der Lautsprecher die lieben Fischlein ein weiteres Jahr aus demselben verdammten Fluss trinken. Genau das ist es, was an Weihnachten so nervt, denkt Héctor: dass alles immer gleich abläuft, während wir uns verändern und älter werden. Für ihn grenzt es schon an Grausamkeit, dass diese Weihnachtsstimmung das Einzige ist, was sich Jahr um Jahr ohne Ausnahme wiederholt und unseren Verfall nur umso deutlicher zu Tage treten lässt. Und zum x-ten Mal in den letzten beiden Wochen wünschte er sich, er wäre vor dem ganzen Rummel in ein buddhistisches oder radikal atheistisches Land geflohen. Nächstes Jahr, sagt er sich, nächstes Jahr, immer wieder, wie ein Mantra. Und was sein Sohn dazu sagt, kann ihm gestohlen bleiben.
    Er ist so mit sich beschäftigt, dass er nicht merkt, wie der langsam fließende Fußgängerstrom innehält. Héctor stehtvor einem Stand mit Tüten voller Plastikfigürchen: Cowboys und Indianer, Soldaten in Tarnanzügen, bereit, aus dem Schützengraben zu feuern. Seit Jahren hat er diese Figürchen nicht mehr gesehen, und er erinnert sich, wie er ein paar für Guillermo gekauft hat, als der noch ein kleiner Junge war. Der Verkäufer jedenfalls, ein alter Mann mit arthritischen Händen, hat es geschafft, bis ins Detail eine grandiose Kriegsszene nachzustellen, die einem Film aus den Fünfzigern alle Ehre gemacht hätte. Es sind nicht die einzigen Figürchen, die er verkauft. Weitere Soldaten, die klassischen aus Zinn, größer und mit glänzenden roten Uniformen, marschieren auf der einen Seite; auf der anderen, historisch etwas desorientiert, eine Gruppe römischer Gladiatoren.
    Der Alte winkt ihn heran, ermuntert ihn, die Ware in die Hand zu nehmen, und Héctor folgt der Aufforderung, mehr aus Höflichkeit denn aus wirklichem Interesse. Der Soldat ist weicher, als er dachte, fast wie menschliches Fleisch, und die Berührung ekelt ihn. Plötzlich nimmt er wahr, dass die Musik verstummt ist. Alle Passanten sind stehen geblieben. Die Wagen haben die Scheinwerfer ausgemacht, und die Weihnachtslichter, die nur noch matt flimmern, sind die einzige Straßenbeleuchtung. Héctor schließt die Augen und öffnet sie wieder. Die Menge um ihn herum löst sich auf, die Körper verschwinden, einfach so, verflüchtigen sich, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Nur der Verkäufer steht noch vor ihm. Mit einem Lächeln in seinem runzligen Gesicht holt er unter dem Verkaufstisch eine Schneekugel hervor.
    »Für Ihre Frau«, sagt er. Und Héctor will gerade antworten, nein, Ruth hasst diese Glaskugeln, schon als Kind haben die sie nervös gemacht, genau wie die Clowns. Da sinken die aufgewirbelten Flocken zu Boden, und er sieht sich selbst vor einem Stand mit Plastiksoldaten, gefangen unterdem Glas.
    »Papa. Papa …«
    Scheiße.
    Der Bildschirm des Fernsehers ein grauer Nebel. Die Stimme seines Sohns. Der Schmerz im Nacken, weil er in der ungünstigsten Haltung eingeschlafen war. Der Traum an diesem Dreikönigsabend war so wirklich gewesen.
    »Du hast geschrien.«
    Scheiße. Wenn dein eigener Sohn dich aus einem Albtraum weckt, ist der Zeitpunkt gekommen, als Vater abzudanken, dachte Héctor, während er sich stöhnend und mit einer Hundelaune aufrichtete.
    »Ich bin auf dem Sofa eingeschlafen. Und du, wieso bist du um diese Zeit noch wach?« Es war der absurde Versuch, seine väterliche Würde wiederherzustellen. Er rieb sich die linke Seite seines Halses.
    Guillermo zuckte die Achseln und sagte nichts. Genau wie Ruth es gemacht hätte. Wie Ruth es so oft gemacht hatte. Unwillkürlich griff Héctor nach einer Zigarette und zündete sie an. Der Aschenbecher quoll über von Kippen.
    »Keine Sorge, ich schlafe hier nicht noch mal ein. Geh ins Bett. Und denk dran, morgen müssen wir früh los.«
    Sein
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