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Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Antonio Hill
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Leire, wurde aber ein seltsames Gefühl nicht los. Am liebsten wäre sie Stunden dort geblieben und hätte ihn betrachtet, hätte sich vergewissert, dass es ihm gutging, dass er gesund war und alles dran. Die Krankenschwester musste ihre Gedanken gelesen haben, denn sie beruhigte sie mit derzupackenden Art einer Frau, die seit Jahren mit Frühgeburten und neurotischen Müttern umgeht. Und ebenso resolut schickte sie sie zurück in ihr Zimmer, sie solle sich ausruhen. »Keine Sorge«, hatte sie gesagt, »ich bin die ganze Nacht bei den vier Kleinen hier. Abel wird nichts passieren.«
    Und Leire glaubte ihr. Doch als sie dann sah, wie die Schneeflocken das Bild der Stadt veränderten und in den Schauplatz einer Weihnachtspostkarte Ende Januar verwandelten, kam ihr der schreckliche Gedanke, dass sich hinter diesem freundlichen Gesicht auch jemand verbergen konnte, der in der Lage war, das Kind verschwinden zu lassen, zu sagen, dass es gestorben sei, und es zu verkaufen wie eine Ware. Ein Baby wie Abel, wie Ruth …
    Noch hatte sie etwas in der Hand. Zwar bewies es nichts, aber es ließ viel Raum für Spekulationen, stieß die Tür auf zu einem neuen Rätsel um Ruth Valldaura. Wenn die Vermutungen sich bestätigten, hatte Ruths Leben einen auf traurige Weise vollkommenen Kreis beschrieben: Bei der Geburt war sie aus einem Bettchen verschwunden und neununddreißig Jahre später aus ihrer Wohnung, diesem Loft, das sie mit ihrem Sohn teilte. Wer sie als Tochter, als Mutter, als Geliebte oder als Ehefrau kannte, war nun genauso gezwungen, nach ihr zu suchen, wie Jahre vorher vielleicht eine andere Frau. Eine alleinstehende Frau, die sich einer ganzen Welt entgegenstemmte, einer Hierarchie in weißem Kittel und schwarzem Habit, verbündete Figuren in einem perversen Schachspiel und noch dazu mit Komplizen in anderen Gesellschaftsschichten, so dass sie sich ungestraft bewegen konnten.
    Sie zweifelte nicht an dem Wort »pervers«. Für Leire gab es in dieser Welt, in dieser Stadt, die sich nun in Reinheit kleidete, sehr wohl schlechte Menschen. Und dabei dachte sie nicht an Kriminelle, nicht einmal an Mörder, sondern an gewissenlose Existenzen wie Dr. Omar. Die Bilder von Ruthin seiner Praxis waren in ihrem Gedächtnis noch lebendig, und auch sie gehörten, davon war sie überzeugt, zu diesem unmöglichen Puzzle. Sie hatte nur neue Teile hinzufügen können, aber es blieb unvollständig. Damit muss ich mich begnügen, dachte sie. Jemand hatte mal gesagt, älter zu werden heiße, ein wenig zu kapitulieren. Nun denn, sie kapitulierte, zumindest für ein paar Monate. Und ohne sich schlecht zu fühlen.
    Leire blieb noch am Fenster stehen, genoss diese weiße Nacht, dachte an Abel. An ihre Eltern, die am nächsten Tag kommen würden, kalt erwischt zuerst von der unpünktlichen Entbindung und dann vom Wetter. An Tomás, der auf alle guten Ratschläge gepfiffen und sich auf den Weg gemacht hatte und jetzt in einem Zug feststeckte. Und sie erinnerte sich daran, was ihre Mutter ihr an jenem Tag in der Küche prophezeit hatte und was sich tatsächlich zu erfüllen schien. »Am Ende, wenn es so weit ist, wirst du allein sein.«
    Doch während sie den Schnee fallen sah, stellte Leire fest, dass sie sich absolut nicht so fühlte. Und mit einem Lächeln dachte sie, dass es eigentlich genau das Gegenteil war. Nie wieder würde sie wirklich allein sein.

SECHS MONATE VORHER
    Ruth hatte das Nötige rasch zusammengepackt. Es waren nur zwei Tage, sie brauchte also bloß ein paar Sachen und die kleine Reisetasche. Das Sonnenlicht, das in die Wohnung flutete, unterstrich ihren Entschluss. In einer Stunde konnte sie am Strand liegen, ein Buch lesen, ohne andere Verpflichtungen, als sich einzucremen und zu entscheiden, wo sie essen wollte. Es war eine gute Idee gewesen. Sie brauchte ein bisschen Zeit für sich, nur das, ein Wochenende mit Meer, Ruhe und Langeweile. Nach ein paar schwierigen und in manchen Momenten auch unangenehmen Wochen hatte sie sich die Belohnung verdient. Noch immer ging ihr dieser finstere Mensch durch den Kopf, und dass er nicht mehr da war, beruhigte sie auch nicht. Schluss jetzt, sagte sie sich. Es war ein Fehler gewesen, zu ihm zu gehen, aber sich dafür zu geißeln tat ihr nicht gut. Sie hatte es niemandem gesagt. Manchmal verstand nicht einmal sie selbst, warum sie sich auf Sachen einließ, die sie im Grunde nichts angingen.
    Sie wollte schon gehen, doch dann überprüfte sie, eine blöde Marotte, erst noch die
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