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Der Einsatz

Der Einsatz

Titel: Der Einsatz
Autoren: David Ignatius
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dieser eine schmerzliche Erinnerung daran, dass ein Entrinnen nur in der Phantasie möglich war.
    Von den Hügeln aus betrachtet war die Stadt, deren Häuser von den Hängen des Elburs-Gebirges bis hinab in dietrockene Ebene der Ghom-Wüste reichten, ein grandioser Anblick. Wie eine bunt verzierte Schale lag sie da und schien offen für die ganze Welt zu sein. An ihrem oberen Rand arbeiteten sich die Hochhäuser und Wohnblocks immer weiter die Hügel hinauf, unterbrochen von ausgedehnten Parks mit plätschernden Brunnen und gepflegten Rasenflächen. Im Mellat-, Haqqani- und Lavizan-Park suchten die Menschen Schutz vor dem Staub und der Hitze des Tages. Dahinter erstreckte sich ein schier unendliches Häusermeer hinab in die Ebene: von dem Gewirr winziger Gässchen rings um einen überdachten Markt in der Südstadt bis hin zum Märtyrerfriedhof in Behest-e-Zahra. Eine Stadt, die zu groß war, um sie mit einem Blick zu erfassen, eine Stadt, in der niemand alles wissen konnte, eine Stadt, in der sich Geheimnisse verbergen und bewahren ließen.
    Doch dieses Gefühl war ein Trugschluss, ganz besonders hier in Jamaran, wo man ständig überwacht wurde. Den ganzen Tag saßen hier Männer in parkenden Autos und beobachteten eine bestimmte Kreuzung, und auf vielen Hausdächern waren Kameras montiert. Wenn ein Taxi in die Gegend kam, wurde das von jemandem vermerkt; wenn ein Auto besonders langsam fuhr, überprüfte jemand anders sein Nummernschild. Nicht einmal das Telefonieren war hier privat. Wenn man sich beim Wählen vertippte und aus Versehen bestimmte Nummern anrief, wurde man zurückgerufen und gefragt, wer man sei. Nicht einmal die privilegierten Einwohner dieser Blackbox von einem Stadtviertel waren sicher vor Lauschern und Beobachtern, wenn sie aus ihren Limousinen mit den Vorhängen vor den hinteren Fenstern stiegen. Wenn sie einen Fehler machten, wurden auchsie einem Verfahren unterzogen, das die Behörden
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nannten, was so viel wie «Führung» bedeutet.
     
    Der junge Iraner setzte eine Sonnenbrille auf, um seine Augen vor der gleißenden Nachmittagssonne zu schützen. Nachdem er ein paar Schritte gegangen war, blieb er stehen und steckte sich ein Stück Vollmilchschokolade in den Mund, deren Geschmack ihn an Deutschland erinnerte. Dann ging er weiter die Straße entlang, bis er vor dem Schaufenster eines Handyladens stehenblieb und sich die neuesten Mobiltelefone ansah. In der Glasscheibe spiegelten sich Dutzende von Passanten, und der Mann musterte ihre Gesichter und hoffte, dass das wegen der dunklen Sonnenbrille niemand bemerkte. Er war nicht sonderlich gut in solchen Dingen, aber er wollte es richtig machen.
    Er steckte sich die Kopfhörer seines iPods in die Ohren und stellte den MP 3-Player , den ihm ein Freund vor einem Monat aus Dubai mitgebracht hatte, auf die Shuffle-Einstellung, wodurch die gespeicherten Lieder in willkürlicher Reihenfolge abgespielt wurden. Das erste war von einem persischen Rapper aus Los Angeles, der sich MEC nannte – Middle East Connection. Die Musik war furchtbar nervig. Er klickte weiter und landete bei einem Song von Lou Reed, «Walk on the Wild Side». Schon besser. Doch obwohl niemand mitbekam, was der junge Wissenschaftler hörte, und ihn auch niemand prüfend ansah, bekam er es in der Mitte des Liedes, wo Lou Reed über die schwarzen Mädchen singt, die Du-du-du machen, mit der Angst, dass er vielleicht zu subversiv aussehen könnte, und klickte weiter zu den Goldberg-Variationen vonBach, die er in Deutschland lieben gelernt hatte. Aber auch die machten ihn nervös. Vielleicht hielten die Leute ihn ja jetzt für einen Juden. Also schaltete er den iPod aus und steckte die weißen Kopfhörer wieder in die Tasche.
    Der junge Mann ging weiter den Hügel hinab, bis er zu einer verkehrsreichen Kreuzung kam. Dort nahm er sich ein Taxi und sagte dem Fahrer, er solle ihn zum Hafte-Tir-Platz bringen. Die Frau des Fahrers saß, den vorschriftsmäßigen Schal um den Kopf geschlungen, neben ihm auf dem Beifahrersitz des Paykan und strickte. Sie trug eine Brille mit dicken Gläsern und schnüffelte wie ein Maulwurf in der Luft herum. Als sie den gutgekleideten Mann mit seinen glitzernden Manschettenknöpfen sah, nickte sie ehrerbietig. Sie hatte instinktiv erkannt, dass er zu den
asdam besabi,
den guten Familien, gehörte.
    Im zäh fließenden Berufsverkehr fuhren sie die breite Modarres-Straße entlang. Als das Taxi den geschäftigen Hafte-Tir-Platz erreichte, wo neben
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