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Der Einsatz

Der Einsatz

Titel: Der Einsatz
Autoren: David Ignatius
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noch einmal das Gedicht mit dem Titel «Mein Land, ich werde dich von Neuem aufbauen»:
    Mein Land, ich werde dich von neuem erbauen
    wenn nötig, mit Ziegeln aus meinem Leben
    Ich baue die Säulen, dein Dach zu tragen
    wenn nötig, aus meinem Gebein
    Ich werde ihn atmen, den Duft der Blüten
    hervorgebracht von deiner Jugend
    Ich werde dir waschen vom Körper das Blut
    mit den Sturzbächen meiner Tränen
    Nicht nur die Dichter sollten die Wahrheit sagen, dachte der junge Mann. Die Islamische Republik Iran war nicht mehr sein Land. Innerlich war er längst ihr
doshmand
geworden, ihr Feind. Er hatte versucht, in seiner Arbeit aufzugehen und seine Privilegien zu genießen wie all die Heuchler rings um ihn, aber es war ihm nicht gelungen. Sein Vater hatte ihn noch auf dem Sterbebett ermahnt, er solle auf seine innere Stimme hören und nicht auf diejenigen, die angeblich im Namen Gottes sprachen. «Ja, Baba», hatte der junge Wissenschaftler ihm geantwortet. «Ich verstehe.» Das war wie ein Versprechen, das nach und nach alle anderen Stimmen in ihm zum Schweigen gebracht hatte. Er wollte kein Verräter sein, doch inzwischen hörte er nur noch auf das, was ihm seine innere Stimme sagte.
    Als er an jenem Morgen erwachte, keimte in ihm ein Plan auf. Er würde einen Stein ins Wasser werfen. Mehr nicht. Der Stein würde eine Information sein, ein kleines Quäntchen Wahrheit über das, was er in seinem Labor machte. Und dann sollten die Wellen, die dieser Stein verursachte, laufen, wohin sie wollten. Niemand würde wissen, dass er den Stein geworfen hatte, oder die Information zu ihm zurückverfolgenkönnen. Er hatte etwas in die Hand bekommen, und das würde er weitergeben. Mehr konnte er vorläufig nicht tun.
     
    An jenem Morgen fuhr der junge Wissenschaftler zu einem weißen Bürogebäude mit abgedunkelten Fenstern in Jamaran. Es hatte nur eine einzige, von Videokameras überwachte Tür, die hinaus auf eine schmale, halbmondförmig gebogene Gasse führte, und nirgendwo war ein Hinweis darauf zu finden, woran in dem Gebäude gearbeitet wurde. Die Labors in seinem Inneren standen voller exotischer Apparaturen, die man sich auf geheimen Wegen im Westen besorgt hatte, aber das, worauf es eigentlich ankam, waren die Menschen, die dort arbeiteten. Menschen wie der junge Wissenschaftler und seine Kollegen. Das Gebäude war Teil eines Netzwerks, dessen weitere Niederlassungen sich in der näheren Umgebung, aber auch in anderen Stadtvierteln befanden und weder auf dem Stadtplan noch im Telefonbuch verzeichnet waren. Nur wer dazugehörte, wusste von ihrer Existenz, musste aber auch damit rechnen, ständig von ihm unbekannten Personen überwacht zu werden.
    Als er am Nachmittag mit seiner Arbeit fertig war, öffnete der junge Wissenschaftler die Tür und trat mit langsamen Schritten hinaus auf die Gasse. Er war ein gutaussehender Mann Anfang dreißig mit einer großen persischen Nase und dichten schwarzen Locken. Seine Arbeitskleidung bestand, wie die seiner Kollegen, aus einem streng wirkenden schwarzen Anzug aus Sommerwolle und einem gestärkten weißen Hemd ohne Kragen. Das einzige persönliche Detail warendie goldenen Manschettenknöpfe, die unter den Ärmeln des Jacketts hervorblitzten. Der junge Wissenschaftler trug sie zum Andenken an seinen Vater, dem sie einmal gehört hatten. Sein Gesicht wirkte weich, was daran liegen mochte, dass er keinen Bart trug, und in seinen Augen funkelte eine Neugier, die er nicht zu verbergen versuchte. Er wirkte lockerer als andere iranische Männer, und er ging mit geradem, durchgedrücktem Rücken und leicht nach außen gedrehten Fußspitzen. Dieser Gang war ein Überbleibsel seines Physikstudiums in Deutschland, wo sich jedermann frei bewegen konnte und nicht ständig Angst haben musste, von irgendwoher beobachtet zu werden.
    Als er das Büro verließ, trug der junge Mann eine schwarze Aktentasche unter dem linken Arm und drückte sie so fest an den Körper, dass die Überwachungskamera über der Tür sie nicht sehen konnte.
     
    Es war Frühsommer, und die Hitze des Nachmittags legte sich wie ein dichter, aus den Abgasen von Autos, Motorrollern und benzinbetriebenen Generatoren gewobener Schleier über die Stadt. Eigentlich hätte es hier oben auf den Hügeln kühler sein müssen als unten in der Altstadt, aber die Hitzeglocke, die über dem Kessel von Teheran lag, machte keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Für jemanden, der insgeheim von seiner Flucht träumte, waren Tage wie
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