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Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Titel: Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
Autoren: Raul Zelik
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altern lassen. Und in diesem Augenblick ist plötzlich der Gedanke an die durch den Wundverband schimmernde Narbe des Bettnachbarn wieder da, an einen sich hebenden und senkenden Brustkorb, ein schlagendes Herz. Die Frau, vor sich das beschlagene Wodka-Glas, schaut erschrocken – vielleicht aus Mitgefühl, vielleicht weil sie vorausschauend die Belastung einer schweren Krankheit von sich fernzuhalten versucht und auf Distanz geht –, und Daniel verstummt, erinnert sich an Fils Zimmernachbarn, den fahlen Mann mit der frischen dunklen Naht, der, die Infusionsflasche triumphierend hinter sich herziehend, den Raum verließ, das heißt, Daniel malt sich zum ersten Mal die Situation konkret aus: ein aufgesägter, aufgebrochener Brustkorb, in dem Chirurgenhände abgeschnittene Gefäße sortieren, in dem Spezialisten, Experten, Feinmotoriker mechanische Mängel zu beheben versuchen. Und obwohl Daniel und die Frau weiter Eisbrecher trinken, verläuft das Gespräch von da an nur noch stockend, kann er sich auf ihre Unterhaltung nicht mehr wirklich konzentrieren.
 
    Es ist gegen eins, als sie von ihren Stühlen aufstehen, um nach Hause zu gehen, die Schlesische Straße zurück zum U-Bahnhof laufen, der Fluss liegt dunkel, schmutzig, träge neben der Kurve, die früher Demarkationslinie zwischen zwei politischen Systemen war, jetzt nur noch lärmende, von Touristen in Besitz genommene Kurve ist, und selbst in diesem Moment sieht es kurz danach aus, als würden die beiden, als würden Daniel und die Frau die Nacht gemeinsam verbringen. Sie laufen die Treppe zur Hochbahn hinauf, hören den einfahrenden Zug schwerfällig über die Gleise rumpeln, steigen in einen der muffig riechenden Waggons, und Daniel, der die Sitze und Griffe schmutzig findet, sich immer noch nicht an den Berliner Nahverkehr gewöhnt hat, fährt ein Stück, einen kleinen Umweg in ihrer Richtung mit. Doch als sie die Haltestelle erreichen, an der sie sich entscheiden müssten, an der sich einer der beiden entscheiden müsste, ergreift keiner, ergreift weder Daniel noch sie die Initiative, und so drückt Sarah-Charlotte-Nina, ihren Namen weiß er immer noch nicht, den Türknopf. Sie fassen sich noch einmal kurz an den Händen, diesmal ohne Kuss, und dann ist sie weg.

II
    An der Aufnahme muss Daniel, den Namen zweimal wiederholen.
    Mbele.
    Die Krankenschwester blickt ihn irritiert an.
    Mein Vater heißt Jensen, schiebt er erklärend hinterher.
    Oft wird er an dieser Stelle nach der Herkunft des Namens gefragt, muss er erklären, dass es sich um einen afrikanischen Nachnamen handelt, den er nur trägt, weil die Mutter nach seiner Geburt für kurze Zeit mit einem Mann aus dem Kongo zusammen war. Den Namen haben sie nie aufgegeben; zuerst weil der Mann sein Bleiberecht verloren hätte, wenn die Mutter sich hätte scheiden lassen, danach aus Bequemlichkeit.
    In diesem Fall jedoch hakt die auf Diskretion geschulte Krankenschwester nicht weiter nach; Daniel wird durch eine schwere Glastür gelotst, betritt, nachdem er sich einen Kittel übergestreift, die Hände gewaschen und die Finger gründlich mit Desinfektionsmittel eingerieben hat, die senfgelbe Intensivstation.
 
    Das Personal sitzt vor einem großen, fast vier Meter breiten Pult mit elektronischen Anzeigen, die mit Vorhängen seitlich voneinander getrennten Betten stehen dahinter.
    Die Luft ist trocken und kalt, es riecht nach Putzmittel.
 
    Daniel fragt nach der Stationsärztin, die ihn vor eineinhalb Stunden angerufen und ihm eine unerfreuliche Nachricht angekündigt, ihm nach einer kurzen Pause erklärt hat, dass sich der Zustand des Vaters über Nacht dramatisch verschlechtert, der Vater einen Kollaps erlitten habe und deshalb in ein künstliches Koma versetzt worden sei, einen Zustand, der es in der Regel erlaube, den Patienten zu stabilisieren. Doch mittlerweile ist die Ärztin nicht mehr im Dienst, hat ihre Zwölf-, Achtzehn-, Vierundzwanzig-Stunden-Schicht beendet, und stattdessen tritt ein junger Mann, höchstens dreißig, höchstens fünf Jahre älter als Daniel, auf ihn zu, gibt ihm die Hand, die anders, als Daniel es bei einem Arzt vermutet hätte, alles andere als feinmotorisch aussieht, und zieht ihn zur Seite, in eine Art Besprechungszimmer. Daniel merkt, wie seine Zähne zu klappern beginnen, die Knie weich werden, sich sein Magen flau anfühlt, und sinkt dankbar auf den Stuhl, auf den der Arzt deutet.
    Er hört eine Stimme, unbestimmbar weit weg: Sie wissen, dass Ihr Vater an einer
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