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Der Effekt - Roman

Der Effekt - Roman

Titel: Der Effekt - Roman
Autoren: Heyne
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gerast oder gegen Häuserfassaden geprallt. Aber nichts bewegte sich. Das Bild schien einen unnatürlichen, geisterhaften Augenblick eingefangen zu haben. Nicht, weil dies hier ein Schnappschuss aus einer Metropole war, in der gerade etwas unglaublich Schreckliches passiert war, sondern weil auf diesem grauenerregenden Schwarz-Weiß-Foto einer der lebendigsten Städte der Welt nicht ein einziges menschliches Wesen zu sehen war.

02

Washington State
    Das Kaskadengebirge machte immer wieder einen mächtigen Eindruck auf James Kipper. Er ließ seinen Rucksack zu Boden fallen, um eine kurze Pause einzulegen und einen Schluck Wasser zu trinken. Der großartige Blick hinunter auf das bewaldete Tal, aus dem er hier heraufgeklettert war, war der Lohn für seine Anstrengungen seit dem frühen Morgen. Auf dem Weg, den er gekommen war, lagen kleine Haufen von Schnee, der von den schwer beladenen Ästen der Kiefern und Tannen herabgefallen war, die die sanften Hügel unter ihm überzogen und die Landschaft wie ein Teppich bedeckten. Er liebte die Welt hier draußen. Die Natur war so mächtig, der Mensch so winzig dagegen. Hier hatte man das Gefühl, äonenweit von der Zivilisation des 21. Jahrhunderts entfernt zu sein. Der frische, für die Jahreszeit ungewöhnlich sonnige Morgen hatte den Aufstieg über dem Tal zu einem ganz besonderen Vergnügen werden lassen. Die Luft war belebend und würzig, und die saftige braune Erde wurde zum ersten Mal seit Monaten von der Sonne beschienen. Ein leichter Wind, gerade stark genug, um die Wipfel hin und her zu wiegen, trug ihm das leise Plätschern eines Baches zu, der durch die Schneeschmelze zu einem kleinen Fluss angewachsen war. Er stand am Rand eines schmalen Plateaus und stellte sich vor, das Land da unter ihm sei übersät mit Burgen und Türmen auf den Höhen. Er hatte eine Tochter, die erst kürzlich in die Schule gekommen war, und er
dachte oft über Ritter und Schlösser und Märchengestalten nach.
    Kipper sog die kalte, saubere Luft ein, und es tat richtig weh in seiner Brust. Aber es war ein angenehmer Schmerz. Es war kaum mehr als zwölf Grad warm, aber er war bestens ausgerüstet für diese Art von Wanderung und spürte sogar, wie Schweißtropfen über den Oberkörper rannen. Er nahm noch einen großen Schluck vom eiskalten Wasser, das sehr gut zu seinen widerstreitenden Empfindungen von kalt und heiß zugleich passte. Sein Magen rumorte, um seinen Herrn und Meister daran zu erinnern, dass er vor vier Stunden seine letzte gehaltvolle Mahlzeit zu sich genommen hatte - Bohneneintopf mit Schweinswürsten, den er unten im Tal in einem Topf über einem Holzkohlefeuer aufgewärmt hatte. Kipper zog den Reißverschluss seiner Gore-Tex-Jacke auf und holte den Energie-Riegel heraus, den er in einer seiner vielen Taschen verstaut hatte, bevor er am Morgen aufgebrochen war. Der Riegel dürfte jetzt schön warm und weich geworden sein.
    Er spürte ein Vibrieren in einer seiner Taschen. Wenige Sekunden später brachte ihn das Klingeln seines Satellitentelefons zurück in die wirkliche Welt. Der Apparat war ein Zugeständnis an seine Frau Barbara. Sie erlaubte ihm, an drei Tagen im Jahr durch die Wälder zu streifen, aber als ehemalige New Yorkerin hatte sie »Probleme« mit seinem »Naturburschen-Tick« und bestand darauf, dass er auf seinen Expeditionen ins Land der Elfen immer ein Handy mit GPS mitschleppte. »Damit wir deine Leiche finden können, bevor die Kojoten und Aasgeier sie aufgefressen haben«, hatte sie scherzhaft erklärt.
    Er holte das verhasste Teil modernster Technologie heraus und starrte auf den Bildschirm. Es war noch nicht einmal Barbara, die ihn da anrief! Die Nummer schien eher jemandem im Rathaus zu gehören.

    Na toll, jetzt bin ich ja schön angeschmiert, dachte er. Nur seine Frau und die Park Rangers sollten diese Nummer kennen, und Barbara hatte wie versprochen noch nie auf diesem Handy angerufen. Aber aus irgendeinem Grund hatte sie die Nummer an irgendeinen Deppen bei der Arbeit gegeben.
    Es sei denn, es ist ein Call-Center, bitte, lass es kein Call-Center sein, dachte er.
    Er malte sich aus, wie unerfreulich das Gespräch werden könnte, und nahm den Anruf entgegen. Falls das irgendein Idiot aus Neu-Delhi war, der ihm ein Timesharing-Ferienhaus andrehen wollte …
    »Kipper? Bist du dran?«
    Der oberste Chef des Stadtrats von Seattle schloss die Augen und atmete aus.
    »Hallo, Barney, ich hoffe, du hast eine gute Entschuldigung.«
    Wer immer entschieden
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