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Der dritte Berg

Titel: Der dritte Berg
Autoren: J. F. Dam
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einer anderen Welt gefallen.

 
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    Â 
    HEUTE MORGEN gehe ich hinunter, um meine Post zu holen. Zitternd und fast außer Atem komme ich zurück (in ähnlich erregtem Zustand wie drei Monate zuvor). Ein Brief ist unter meiner Post gewesen, getippt auf einer alten Schreibmaschine.
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    Iskander Mahan
    Akkad Lane 323, Chandranagar
    Â 
    An
    Dr. Bernard Rai
    Veitlissengasse 7d
    A-1130 Wien
    Â 
    Gott der Allmächtige besitzt im Osten
    eine pechschwarze Finsternis,
    dort befindet sich auch ein Quell,
    der »Lebenswasser« genannt wird …
    und wer aus demselben auch nur einen Tropfen
    getrunken, nimmermehr stirbt.
    (Ein Engel zu Du’l-qarnein, dem Zweigehörnten) 3
    Â 
    Lieber Dr. Rai,
    Â 
    es gibt eine sehr alte Geschichte: ein einsamer, großer Mann trennt sich von seiner Armee, welche sich weit von der Heimat befindet, am anderen Ende der Alten Welt. Er begibt sich auf eine Reise hinein in ein seltsames Land. Nebel herrscht, oder Dunkelheit, das Land ist unwegsam – es sind wohl Berge. Der Mann ist begleitet von einem Freund, es könnte sich auch um seinen Diener handeln. Dieser Diener-Freund heißt Al-Khidr. Und als sie sich im Ungewissen der Finsternis und des Geländes verlieren, gelangt Al-Khidr ans Ziel, »an der rechten Seite der aufgehenden Sonne«, unweit des höchsten Berges, und findet des Lebens Quelle. Sein Freund und Herr jedoch geht in die Irre, und schließlich gelangt er zurück zu seiner Armee. Bald darauf stirbt er. Und nur Al-Khidr lebt unerkannt bis heute.
    Iskander war der große Mann, auch Alikasudara genannt, oder Du’l-qarnein, der Zweigehörnte. Der Große Makedonier.
    Alexander also war es, der das mysterium von Sonne und Mond als Erster erkannt hat.
    Â 
    Das Geheimnis ging nicht verloren und gelangte in die Hände von König Seleukos Nikator, den Nachfolger von Alexander dem Großen im Osten. Von ihm wurde das Wissen weitergereicht, durch dunkle Jahrhunderte bald, bis Europa wiedererwachte und dem Zug Alexanders in mehreren Wellen in den Osten folgte. Von den Kreuzzügen bis zu Heinrich dem Seefahrer und dann zum British Raj. Die Motive ließen stets zu wünschen übrig. Kein Mann aber hat reine Gedanken, wenn er seine Angebetete erblickt!
    Denn nur wenige Menschen waren des Wissens teilhaftig. Nur wenige kannten die wahren Gründe für Europas wilden Eifer!
    Eine Legende, ein Mythos, werden Sie sagen. Wer aber soll das feststellen? Das Leben muss zu sich selber finden, dann herrscht Vollkommenheit.
    Â 
    Ihr ergebenster
    Iskander
    Â 
    Gegen Mittag schieben sich vor meinem Fenster die Wolken zusammen. Sie häufen sich zu undurchdringlichen, fast die Hügelkuppen um Wien berührenden Stratocumuli congesti opaci , die den Himmel verfinstern und mich das Licht anknipsen lassen.
    Ich sitze den ganzen Tag steif an meinem Schreibtisch. Nur wenige Male stehe ich auf; ich konsultiere meine Bibliothek, ziehe Poe, Heraklit und Borges heran, dann Abhinavagupta.
    Ist die Welt eine nicht vertrauenswürdige, in die Leere projizierte Bibliothek unseres Geistes?
    Dann wäre Unsterblichkeit ein schwaches Wort. Kultur eine Erzählung. Die Geschichte ein sinnloser Kampf zwischen Interpretationen des Nichtseins.
    Â 
    In der folgenden Nacht schlafe ich wenig. Ich sitze in meinem Ledersofa und überlege. Ich schreibe eine kleine Liste.
    Â 
    Sophia           
    Die Notiz        
    Schmithausen
    Â 
    Um acht Uhr morgens tippe ich eine Kurznachricht an Sophia und schicke sie zwei Mal, damit sie auf keinen Fall verlorengeht. Ich wage es nicht, Sophia anzurufen.
    Dann schließe ich meine Wohnung ab, fahre mit dem Fahrstuhl in die Garage und steige in meinen Wagen. Ich rufe meinen Vater an, um die genaue Adresse in Erfahrung zu bringen. Ich streiche über das Armaturenbrett. Einen Augenblick lang überlege ich, ob es nicht angenehmer wäre, die Bahn zu nehmen. Doch dann fahre ich los. Lange Autofahrten können Meditationen über die Abgründe des Lebens sein. Oder über Leute wie Iskander.
    In einem kleinen Wohngebiet bei Kufstein in Tirol steige ich fünf Stunden später aus dem Wagen. Es ist das Ferienhaus von Xaver Schmithausen, in dem er stets den gesamten Sommer verbringt. Ich gehe durch die Gartenhecke, laufe eine breite Eingangstreppe hinauf und klingle an der Tür. Xaver Schmithausen öffnet sehr
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