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Der deutsche Goldrausch

Der deutsche Goldrausch

Titel: Der deutsche Goldrausch
Autoren: Laabs Dirk
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besser informiert als manche DDR-Bürger in den Großstädten. Die Witwe vermittelt ihm die Lebens- und Gedankenwelt einer Unternehmer- und Großgrundbesitzerfamilie. Sie erzählt ihm von Freiheit, Privateigentum, Verantwortung. Sie sitzen in seinem Kinderzimmer, 75 Quadratmeter groß, hohe Decken, stuckverziert, Holzdielen, während um sie herum das Haus verfällt und der bröckelnde Putz unter Efeu versteckt werden muss. An das Gutshaus grenzt ein Schweinestall, ein Misthaufen mitten im Hof verpestet die Luft.
    Weltläufigkeit vermitteln ihm auch die politischen Dissidenten aus der Stadt. Die schickt die Partei zur Strafe regelmäßig aufs Land, damit sie auf den Äckern Sachsens ihre politische Einstellung überdenken. Der junge Detlef lernt so renitente vietnamesische Studenten, Literaten und Professoren aus Ost-Berlin kennen, die mit vielen Büchern im Gepäck auf dem Hof aufkreuzen.
    Die Mauer kennt er nur vom Hörensagen, er fühlt, erlebt und sieht sie nicht. Ihm setzt der Hof Grenzen; der ist weit entfernt vom nächsten Ort Döbeln. Wenn die Besucher weg sind, macht Detlef die Einsamkeit zu schaffen. Sein Bruder ist zehn Jahre älter und selten zu Hause, der mittlere Bruder ist als kleines Kind in einem Teich auf dem Hof ertrunken. Auf Detlef wird nun besonders aufgepasst. Er soll nicht in der riesigen Scheune spielen, er könnte im frisch gemähten Weizen ersticken. Meist ist er allein – »mit 150 Tieren«, wie er sich erinnert.
    Im Kindergarten bekommt er den Spitznamen »der Boss« wegen seines Auftretens oder weil sein Vater der wichtigste Mann im Dorf ist, da ist sich der junge Scheunert nicht sicher. Seinen Vater kennt jeder in der Gegend. Der hat so viel Land hinzugepachtet, dass er Ende der fünfziger Jahre zum
ersten Mal anständig verdient. Er beschäftigt viele Bauern und Landarbeiter aus der Umgebung. Doch immerzu versucht die SED ihn zu überreden, seinen Grund und Boden freiwillig abzugeben und sich »kollektivieren zu lassen«. Scheunert erinnert sich an Erzählungen von Lastwagen, vollbesetzt mit Männern, die rote Fahnen schwingen.
    Der Vater weigert sich hartnäckig, wie viele andere Bauern auch, sein Land abzugeben. Vergebens. 1960 beschließt die SED, Eigentümer von landwirtschaftlichen Gütern per Gesetz zu enteignen. Aus Scheunerts Höfen wird eine LPG – eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Der Vater muss wieder selbst die Schweineställe ausmisten und Kühe melken. Seine ehemaligen Angestellten, die proletarisierten Bauern, lernen schnell, dass es kein Privateigentum mehr gibt. Produktionsmittel darf nur noch der Staat besitzen. Detlefs Schulkameraden rupfen das Obst von den Bäumen auf dem Familiengrundstück. »Ich habe dann gefragt: ›Warum tut ihr das? Das ist doch gestohlen, das ist doch gar nicht euer Eigentum. Ihr könnt doch nicht einfach kommen und das wegnehmen.‹ Dann kriegte ich ein Grinsen zur Antwort: ›Die Zeiten sind vorbei, das gehört jetzt allen‹«, erinnert sich Scheunert.
    Dass das Eigentum freigegeben ist, dass sich jeder bedienen kann und Diebstahl nicht mehr geahndet wird, empfindet der kleine Junge als bedrohlich. Die Familie Scheunert passt sich auch nach der Enteignung nicht an. Da der Großvater Scheunert in russischer Kriegsgefangenschaft war, ist die Mutter glühende Kommunistenhasserin. Einmal erleidet sie beim Anblick roter Bettwäsche – der Farbe der Kommunisten – einen Nervenzusammenbruch. Ihre Kinder bringt sie in einem weit entfernten Kloster zur Welt, denn die Krankenhäuser in der Umgebung werden von den neuen Herren, den Kommunisten, beherrscht.
    Obwohl sie enteignet sind, gilt der junge Scheunert weiterhin als Sohn eines »Großgrundbesitzers«. Er soll nicht zum Gymnasium zugelassen werden, so will es die örtliche Parteivertretung. Allerdings kennt der Vater den Schulrat des Kreises. Sie waren zusammen in Stalingrad eingekesselt, und das zählt in Sachsen mehr als die Partei. Detlef kann das Abitur ablegen und studiert anschließend auf Empfehlung des Vaters halbherzig Maschinenbau in Dresden, »denn zwei mal zwei ist auch im Sozialismus vier«. Doch dann muss er zur Armee. Er, der einen Tag vor seinem 23. Geburtstag schon das Maschinenbaudiplom in der Tasche hat, soll Wache an der Grenze schieben. Nur mit Glück entkommt er diesem Dienst. Der Lkw, der ihn zur Grenze fahren soll, ist voll, er darf wieder absteigen, kommt stattdessen nach Leipzig.
    Improvisation, Willkür, Zufall in allen Lebensbereichen und
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